Kinder der Apokalypse
Blut gewesen. Fresh hatte zwei Tage gebraucht, um zu sterben. Sie hatten nichts mehr für ihn tun können, die Verletzungen waren zu schwer gewesen. Michael hatte die ganze Zeit bei ihm gewacht, selbst als Fresh ins Koma gefallen war und nicht mehr gewusst hatte, wer er überhaupt war.
Michael hatte dem Fahrer des Lastwagens hinterher gesagt, es sei nicht seine Schuld gewesen. Ein Unfall eben. Er hatte dem Fahrer gesagt, er nähme es ihm nicht übel und hielte deshalb nicht weniger von ihm. Logan war dabei gewesen und hatte seine Worte gehört. Andere hätten den Zorn nicht erkannt, den Michael verbarg. Aber niemand kannte Michael besser als er. Michael war so beherrscht, dass er sich niemals etwas anmerken ließ, das etwas über ihn verraten hätte. Doch es zeigte sich an kleinen Gesten und der Betonung bestimmter Worte. Logan hatte die vielsagenden Zeichen während Michaels Gespräch mit dem Fahrer gesehen und sofort gewusst, was sie bedeuteten. Der Fahrer war ein toter Mann. Logan hätte es ihm beinahe gesagt, dann war er zu dem Schluss gekommen, dass es zu gefährlich sein könnte.
Eine Woche später verschwand der Fahrer auf einer Vorratsexpedition und wurde nie mehr gesehen.
Fresh hätte vielleicht versucht, etwas dagegen zu unternehmen. Aber Logan ist nicht Fresh. Er ist nicht in der gleichen Position wie Michael. Er ist Michaels Adoptivsohn. Obwohl er gerade achtzehn Jahre alt geworden und technisch gesehen ein Mann ist, war es Michael, der ihn in diese Position gebracht hat. Es ist seltsam, sich jemandem so nahe und gleichzeitig so entfernt zu fühlen. Sie teilen so viel, das sonst niemand gemeinsam hat, und dennoch gibt es Grenzen, die Logan nicht überschreiten darf.
Zu fragen, ob dieser Angriff heute Nacht klug ist, ist eine davon. Er weiß, er sollte etwas sagen, denn nach außen sieht es wirklich dumm aus, und ihm ist klar, dass Michael sich verändert hat. Er denkt, dass diese Veränderung schon vor dem Tod von Fresh begann, aber sie hat sich in etwas Gefährliches verwandelt und seine Anstrengungen, die Einst-Menschen und ihre Lager zu vernichten, zu einer Besessenheit werden lassen. Er scheint immer rücksichtsloser gegenüber den Gefahren zu werden, in die er seine Leute führt. Seine Entscheidungen als Anführer sind unangenehm spontan und werden mit weniger und weniger Rücksicht auf die Folgen gefällt. Bisher ist er damit durchgekommen. Bisher haben ihn sein Ruf von Unbesiegbarkeit und sein Glück über die raueren Stellen getragen. Aber Logan weiß, früher oder später wird das nicht mehr funktionieren. Wenn das geschieht, bevor Michael sich wieder zusammennimmt, werden die Folgen schrecklich sein. Aber was soll er tun? Niemand wird einen Jungen anhören, der gerade erst zum Mann geworden ist. Niemand wird glauben wollen, dass Michael nicht mehr unbesiegbar ist.
Niemand will derjenige sein, der vor dem davonläuft, dem sich die anderen bereitwillig stellen. Michael hat ihm das Leben gerettet. Michael hat ihm alles gegeben, was er hat. Er wird ihn nie verlassen, selbst wenn das seinen Tod bedeuten sollte.
Er versucht, diese Gedanken wegzuschieben, als er das Lager anstarrt und darauf wartet, dass Michael den Befehl zum Angriff gibt. Aber die Gedanken lassen sich nicht verscheuchen, sie bleiben bestehen.
»Logan« , sagt Michael plötzlich zu ihm und dreht sich um, um ihm ins Gesicht zu sehen. Michaels Miene ist kalt, aber lebendig und von einer erschreckenden Wildheit. »Ich will, dass du den Angriff am rechten Flügel leitest, auf das erste Gebäude. Wenn du das nicht kannst, sag es mir jetzt gleich. «
Logan würde so etwas nie sagen, und Michael weiß das. Er nickt schweigend.
»Vergiss nicht, was man dir beigebracht hat. Wilson, du nimmst die Linke. Grayling, du bleibst bei mir. Das Hauptgebäude wird am schwersten bewacht sein. Die Experimente werden dort durchgeführt. «
An den Kindern, denkt Logan. An den Alten, Kranken und Hilflosen. In diesem Lager wohnen Dämonen, mindestens zwei. Aber Michael hat Informationen, dass die Dämonen an diesem Abend nicht da sind, sondern unterwegs auf einer Jagd, die sie bis zum Wochenende beschäftigen wird. Michaels Informationen haben sich noch nie als falsch erwiesen. Logan hofft, dass das auch für diese Nacht gilt. Früher einmal hätte er nicht einmal daran gedacht, das zu hinterfragen. Aber Michael ist nicht mehr der Gleiche. Und Logan kann nicht mehr sicher sein, dass er alles, was er tut, auch gut überlegt hat.
Ungewohnte
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