Kinder der Apokalypse
aber nichts. Die anderen waren beschäftigt und bemerkten nichts, bis auf Candle, die verstand, was dort in der Dunkelheit gelauert und sie aus irgendeinem Grund nicht angegriffen hatte. Aber Candle schwieg ebenfalls.
Sie würden später darüber reden, dachte er, als er ging und Cheney ihm auf weichen Pfoten folgte. Sie würde Owl alles erzählen. Owl war ihre Mutter, und sie war ihr kleines Mädchen.
Die beiden hatten eine besondere Beziehung, die durch die Umstände, die sie zusammengebracht hatte, an Kraft gewonnen hatte. Owl hatte das Safeco-Lager verlassen, um bei Hawk und den ersten Ghosts, Fixit, Bear und Sparrow zu leben, beinahe zwei Jahre, bevor sie Candle gefunden hatten. Dadurch, dass Owl an den Rollstuhl und damit größtenteils an ihre Untergrund-Behausung gebunden war, war es reichlich unwahrscheinlich, dass Owl draußen jemanden finden würde, aber genau das war passiert.
Am Tag ihrer ersten Begegnung hatten Hawk und Bear sie nach draußen getragen, damit sie das Lager und Tessa besuchen konnte, in den Tagen, bevor Tessa und Hawk zusammen erwischt worden waren und Tessas Eltern ihr verboten hatten, alleine nach draußen zu gehen. Sie hatten sich nördlich des Lagers am Rand des Pioneer Square in einem der Gebäude am Occidental Park getroffen. Tessa hatte schon gewartet, als sie kamen. Die vier hatten sich unterhalten, dann war Bear gegangen, um nach Schreibmaterial für Sparrow zu suchen, die bei Cheney geblieben war, und Owl hatte ihren Stuhl auf den Platz hinausgefahren, um Hawk und Tessa ein wenig Zeit miteinander zu geben.
Sie saß im schwachen Sonnenlicht, mit dem Rücken zum Haus, und hob den Blick, um dünne Streifen von Blau zu beobachten, die am Himmel kamen und gingen und wie Phantombänder durch Risse in den Wolken strahlten, als das kleine Mädchen auftauchte. Im einen Moment war sie noch nicht da gewesen, im nächsten stand sie schon vor Owl und starrte sie an. Owl war so überrascht, dass sie anfangs nur zurückstarrte.
Dann rief sie: »Wie heißt du?«
Das kleine Mädchen antwortete nicht. Sie starrte einfach nur. Sie war sehr klein und schmächtig, und es schien, als würde sie verschwinden, wenn sie sich zur Seite drehte. Ihre Kleidung hing in Fetzen an ihr herunter, ihr Gesicht war schmutzig. Sie war ein so abgerissenes kleines Ding, dass Owl sofort zu dem Schluss kam, dass sie ihr helfen musste.
Sie ging das Risiko ein, auf sie zuzufahren, ließ sich dabei aber Zeit und achtete darauf, nichts zu tun, was das kleine Mädchen erschrecken würde. Aber das Kind stand einfach nur da und regte sich nicht.
Owl fuhr bis auf drei Meter heran und blieb stehen. »Geht es dir gut?«
»Ich habe Hunger«, sagte das Mädchen.
Owl hatte nichts Richtiges zu essen dabei. Also griff sie in die Tasche, holte den Rest einer Pfefferminzstange heraus und hielt sie ihr hin. Das Mädchen starrte das Pfefferminz an, blieb aber weiterhin, wo sie war.
»Es ist schon in Ordnung«, sagte Owl. »Du kannst es haben. Es ist Pfefferminz.«
Der Blick des kleinen Mädchens veränderte sich. Ihre verblüffend blauen Augen schienen genau die richtige Ergänzung zu ihrem dichten roten Haar darzustellen. Ihre Haut war wie Porzellan, so blass, als hätte sie nie die Sonne gesehen. Es war nicht so ungewöhnlich, hin und wieder verlassene Kinder zu treffen, aber dieses kleine Mädchen sah anders aus als alle Kinder, denen Owl bisher begegnet war.
Owl lehnte sich in ihrem Rollstuhl zurück und legte die Hände in den Schoß. »Ich kann nicht laufen, deshalb kann ich es dir auch nicht bringen. Und ich kann es dir nicht zuwerfen, denn dann würde es zerbrechen. Also musst du schon herkommen und es dir holen. Würdest du das für mich tun?«
Keine Antwort. Das kleine Mädchen starrte sie nur weiter an. Dann überlegte sie es sich plötzlich anders. Sie ging auf Owl zu, streckte die Hand aus, nahm das Stück Pfefferminzstange, wickelte es aus und steckte es sich in den Mund. Sie saugte einen Moment daran, dann lächelte sie. Es war das betörendste Lächeln, das Owl je gesehen hatte. Sie lächelte zurück, so bezaubert, dass sie alles für das Mädchen getan hätte.
»Verrätst du mir deinen Namen?«, fragte sie.
Das kleine Mädchen nickte. »Sarah.«
»Sarah, bist du hier ganz allein?«
Das kleine Mädchen zuckte mit den Achseln.
»Wo bist du zu Hause?«
»Ich habe kein Zuhause.«
»Keine Mutter und keinen Vater?«
Sarah schüttelte den Kopf.
»Keine Brüder und Schwestern?«
Ein weiteres Schütteln des
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