Kinder der Dunkelheit
losgefahren, sie nun in eindeutig b equemerer Position als zuvor, fiel ihr wieder ein, was ihr Entführer gesagt hatte: „Unser Herr will dich bei den anderen haben.“ Wer waren denn bitte ,die anderen‘?
Der Sonnenaufgang über Bologna war so herrlich wie immer, zumindest von hier oben aus betrachtet. Luca versuchte, sich mit dem schönen Schauspiel etwas abzulenken, solange er konnte, dann folgte er den anderen in das Castello und machte sich auf die Suche nach Raffaele. Sofort, wenn die Sonne wieder untergegangen war, wollte er los. Jetzt durften sie keinen Fehler machen, wobei der Fehler ja eigentlich nicht bei ihm gelegen hatte. So ein Mist! Warum hatte Sabine nur so überreagiert? Sicherlich hatte sie genug an Gewalt erfahren und vor allem am eigenen Leib erlebt, darum hatte er sie ja schützen wollen, aber sofort alles in Zweifel zu ziehen? Was sagte ihm das über ihre Liebe zu ihm? Waren ihre Gefühle dem, was er für sie empfand denn in irgendeiner Weise ebenbürtig? In seinem Herzen sah es gerade nicht ganz so gut aus, daher schluckte er schwer und beschloss, jetzt erst einmal die Planung festzulegen und sich abzulenken. Ob er Stefano, sobald er ihm begegnete, lynchen sollte, wusste er noch nicht so genau. Immerhin schien es ihm zu verdanken zu sein, dass sie überhaupt noch lebte. Himmel, was für eine furchtbar verfahrene Situation!
Er spürte Raffaele im Rittersaal und trabte missmutig dorthin, den Frühling hatte er sich in diesem Jahr eigentlich anders vorg estellt. Leise öffnete Luca die schwere Tür – für den Fall, dass Raffaele schlafen sollte, wollte er ihn nicht wecken, auch er brauchte ab und an seine Ruhe. Doch der Freund schlief nicht. Er stand am Fenster und starrte gedankenverloren hinaus in den erwachenden Tag.
„Raffaele? Störe ich?“ Luca spürte, dass der Freund tief in G edanken war und dass diese auch sehr schwer wogen.
„Nein, bitte bleib. Setz dich, ich brauche nur noch eine kleine Weile, um wieder einen klaren Gedanken fassen zu können.“ Raffaeles Stimme klang müde. So kannte Luca ihn eigentlich nicht, immer hatte sich der Freund bisher gut im Griff gehabt. Also setzte er sich in einen der schweren antiken Lehnsessel und wartete geduldig, bis Raffaele das Wort an ihn richten würde.
Endlich wandte der sich vom Fenster ab und setzte sich ihm gegenüber. „Luca, du erinnerst dich an unsere zahlreichen Gespräche, kurz nachdem du verwandelt wurdest? Ich habe dir vieles erzählt und fast alle deine Fragen konnte ich beantworten. Einzig die wichtigste Frage, die du mir damals gestellt hast, die meiner Herkunft, die konnte ich nie beantworten und zwar aus dem einfachen Grund, dass ich es selbst nicht wusste. Wie ich dir berichtet habe, wuchs ich gemeinsam mit Abdallah auf, seine Familie behandelte mich wie einen zweiten Sohn und gab mir alles mit auf den Weg, um der zu werden, der ich heute bin. Aber auch Abdallahs Vater hat mir nie erklärt, woher ich tatsächlich komme, wer meine wirklichen Eltern waren und warum ich bei ihm und seiner Familie lebte. Auf meine Fragen, bekam ich immer die gleiche stereotype Antwort. Es sei zu meinem eigenen Schutz. Heute aber habe ich von Abdallah eine uralte Schriftrolle bekommen, die mir so vieles erklärt, die so vieles in einem anderen Licht erscheinen lässt. Noch möchte ich nicht darüber sprechen, wahrscheinlich auch darum, weil ich die Neuigkeiten erst selbst einmal verdauen muss – was, wie ich zugeben muss, nicht leicht ist. Bald aber werde ich es dir und auch den anderen sagen. Bitte gib mir Zeit. Dann kann ich endgültig auch deine letzten Fragen beantworten, einverstanden?“
Luca musste schmunzeln. „Na ja, mal im Ernst, mein lieber Freund, ich warte ja erst seit vierhundert Jahren, da kommt es jetzt auf eines mehr oder weniger doch auch nicht mehr an, nicht wahr?“
Raffaele lächelte ihn erleichtert an. „Du spricht ein wahres Wort gelassen aus, so mag ich dich.“
Luca fuhr mit der Stiefelspitze die Konturen auf dem großen, von Hand gewobenen Perserteppich nach. „Mein Problem liegt gerade ganz woanders. Bitte versprich mir, dass wir nach So nnenuntergang unverzüglich nach Venedig aufbrechen. Sicherlich könnten wir auch von hier aus agieren, aber ich habe einfach das Gefühl, dass ich dort sein muss, verstehst du das?“
„Aber natürlich kann ich das verstehen. Es sind nicht einmal einhundertsechzig Kilometer, das geht schnell, das haben wir in knapp zwei Stunden geschafft. Mach dir keine Sorgen.
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