Kinder der Dunkelheit
Kälte tapfer trotzend, vor den Bars und tranken ihre Cocktails, heißen Wein oder köstlichen Kaffee. Manchmal beneidete er sie insgeheim um ihre unbeschwerte Jugend – und darum, diesen herrlichen Kaffee genießen zu können, welch exquisiter Duft! Heute aber zog ihn ein eigenartiges und ganz spezielles Gefühl tiefer in die Gassen des Viertels. Er passierte einige Geschäfte, die längst geschlossen hatten und stand dann neben einem Restaurant, aus dessen kleinen Fenstern warmes, weiches Licht auf das Steinpflaster fiel.
Lucas Augen waren scharf und er sah sie sofort. Sie wirkte auf ihn wie ein Engel. Langes hellblondes Haar umrahmte ein wunderschönes schmales, blasses Gesicht. Dieses Gesicht, aus dem zwei himmelblaue Augen strahlten, wäre noch schöner gewesen, wenn nicht diese tiefe Traurigkeit darin wäre. Irgendjemand oder irgendetwas musste diese wundervolle Frau sehr verletzt haben. Er konnte ihre Traurigkeit tief in sich spüren und Zorn stieg in ihm auf. Wie konnte man einen Engel verletzen? Was ihn aber fast noch mehr bewegte, war die beinahe greifbare Angst, die in regelrechten Wellen von ihr ausströmte. Sie fürchtete sich vor etwas oder jemandem und das durfte nun schon gar nicht sein!
Allein saß sie an einem Zweiertisch am Fenster und aß, ganz in Gedanken versunken, eine Pizza. Ein Glas Rotwein stand vor ihr auf dem Tisch und er stellte sich vor, wie schön es sein müsste, mit ihr gemeinsam dort zu sitzen. Diese Frau regte tatsächlich etwas in ihm an, das er seit Langem nicht mehr gespürt hatte: Sie berührte sein Herz. Luca konnte fühlen, wie der Ring aus Eis, der es nun schon so lange umgab, zu schmelzen begann. Er zog sich zurück in die Dunkelheit der Häuserwände und beobachtete die Unbekannte so lange, bis sie das Restaurant verließ. Sie fröstelte offensichtlich und schlang ihren langen Ledermantel enger um sich. Wie er schien sie sich an den Geräuschen und Gerüchen der winterlich ruhigen Stadt zu erfreuen, denn sie hob langsam den Kopf und ließ ihren Blick mit wehmütigem Lächeln über die alten historischen Häuserfronten schweifen. Er folgte ihr in kurzem Abstand. Auch wenn es ruhig war, eine so auffällig schöne Frau allein in der Nacht war nicht nur für seinesgleichen eine Herausforderung.
Luca nahm, während er hinter ihr lief, ihre wirren Gefühle in sich auf – ob er das nun wollte oder nicht. Nur allzu gern hätte er sie in die Arme genommen, als sie kurz stehen blieb und mit leisem Seufzen auf einen der zahllosen kleinen Kanäle blickte. So viel Unsicherheit, so viel Angst! Aber auch Wut war da, doch zu wenig, um das andere zu übertönen. Sie ging langsam und ließ die besondere Magie Venedigs auf sich wirken.
An der Brücke, die sie jetzt überquerte, waren einige Gondeln im Winterkleid festgezurrt. Sie freute sich offenbar über den Anblick und schlenderte näher zur Treppe des kleinen Anlegers. Der Winter in Venedig hatte seine Tücken. Das Spritzwasser aus den Kanälen verwandelte die alten, abgetreten Steinstufen in heimtückische Rutschfallen. Ehe sie jedoch fallen konnte, war er schon an ihrer Seite und hielt sie in sicherem Griff.
„Vorsichtig, Sigñora! Ein Bad in dieser Jahreszeit könnte unangenehm sein.“
Wie konnte sie nur so dämlich sein? Diese Treppen waren im Sommer schon rutschig. Jetzt im Winter mit dem hohen Wasserstand musste man erst recht aufpassen. Blöde, bescheuerte Romantik! Nur weil sie unbedingt die Gondeln ansehen musste. Unverbesserliche Träumerin! Es dauerte eine Weile, bis sie aufhörte , sich im Geiste selbst für ihre Dummheit auszuschimpfen und endlich realisierte, dass sie noch immer in den Armen des netten Italieners lag, der sie aufgefangen hatte. Jetzt, nachdem sie ihn sich genau ansah, hatte sie durchaus Lust, diese Stellung noch etwas länger beizubehalten. Lange schwarzbraune Haare, die in dichten Wellen in sein Gesicht fielen, das so bildschön war, dass es schon fast eine Unverschämtheit war … Warum ihr beim Blick in seine Augen ausgerechnet Mokka einfiel, musste wohl an Venedig liegen.
Im nächsten Moment schaltete sich Sabines gesunder Me nschenverstand – wenn auch widerwillig – ein und sie zog sich mithilfe ihres Retters wieder in eine aufrechte Position. Jetzt lächelte er auch noch! Wie konnte ein Gesicht nur so faszinierend sein? Das machte es ihr nicht gerade leichter, vernünftige Worte zu finden, als sie sich aus seinen Armen wand.
„Äh, vielen Dank, das war sehr nett. Ach so, italienisch.
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