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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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gehen«, flüsterte er. Dann stellte er die Lampe hin und verließ ihr kleines Zimmer.
    Kate setzte sich auf und spürte, wie die Müdigkeit an ihr zehrte, während die Echos ihres Traums schwächer wurden und flohen. Sie konnte sich nicht mehr genau erinnern ... etwas mit Tom? Oder waren es O'Rourke oder Lucian gewesen? Sie zitterte in der Kälte des dunklen Zimmers.
    Die Erinnerungen preßten sich an sie wie ein kalter und ungewollter Galan. Tom. Julie. Joshua! Sie spürte die Schmerzen im linken Arm, und plötzlich stank die Luft nach Rauch und Asche. Trauer drohte sie in die kalte Dunkelheit zu stürzen, die sie umgab. Die Erinnerungen der vergangenen paar Wochen waren keine abgeteilten Bilder, sondern eine einzige, untrennbare, schrecklich schwere Masse, die sie nur dadurch fernhalten konnte, daß sie sich auf das nächste konzentrierte, das getan werden mußte.
    Die Arabische Studentenunion.
    Dann kehrte ihr ganzes Erinnerungsvermögen zurück, und Kate wußte, daß es nicht ihre erste Nacht in Bukarest war, obwohl ihr der Kellerraum, wo sie schlief, so fremd schien, sondern ihre dritte. Es regnete. Graupel peitschte gegen das kleine Fenster hoch droben in der Wand. Jetzt fiel ihr wieder ein, daß es in den drei Tagen und Nächten, seit sie in Bukarest eingetroffen waren, ununterbrochen geregnet hatte.
    Sie sah an sich hinab und stellte fest, daß sie am Nachmittag in Cordhosen und ihrem dunklen Pullover eingeschlafen war. Auf der abgenutzten Kommode neben der Tür stand ein Stück Spiegelglas ohne Rahmen, und dort strich Kate sich mit einer Bürste durch das Haar, bis sie schließlich aufgab. Sie nahm die Handtasche über die Schulter und ging ins Nebenzimmer zu Lucian.
     
    Der Medizinstudent hatte Kate und O'Rourke eine Kellerwohnung in einer schmalen Gasse in der Altstadt westlich vom Cişmigiu-Park besorgt. Die Wohnung bestand aus Kates winzigem Schlafzimmer und dem ›Wohnzimmer‹ mit seinen Rauhputzwänden, wo O'Rourke die wenigen Stunden, die er hier war, auf dem Sofa schlief. Die Toilette oben war in dem Sinne ›privat‹, daß wegen ›Renovierung‹ niemand im Erdgeschoß und dem ersten Stock wohnte, aber Kate hatte weder Arbeiter gesehen, noch Anzeichen dafür, daß in letzter Zeit in den verwohnten Räumen da oben gearbeitet worden wäre. Die großen Metallheizkörper im Keller waren so kalt und tot wie Stahlskulpturen; einzige Wärmequelle war ein kleiner Kohleofen in Kates Schlafzimmer. Lucian hatte einen schweren Sack Kohlen gebracht, aber gleichzeitig darauf hingewiesen, daß es verboten war, sie zu verbrennen, daher bemühte sich Kate, ihr Bedürfnis nach Wärme auf ein Brikett am Morgen zu beschränken, wenn sie sich anzog, und auf ein kurzes Feuer am Abend.
    Es war bitter kalt.
    Kate zitterte immer noch, als Lucian sie zum Dacia hinausführte.
    »Wo ist O'Rourke?« fragte sie. Der Priester war heute morgen kurz nach dem Frühstück aufgebrochen, ohne zu verraten, wohin erging.
    Lucian zuckte die Achseln. »Wahrscheinlich sucht er immer noch nach Popescu.«
    Kate nickte. Die Untätigkeit der letzten drei Tage hatte sie fast zum Wahnsinn getrieben. Sie war nicht sicher gewesen, was sie bei der Rückkehr nach Bukarest finden würden - möglicherweise einen Hinweis, eine Spur von Joshuas erzwungener Rückkehr -, aber da keine unmittelbaren Hinweise auftauchten, hatte sie wenig mehr getan, als sich in dem Kellerraum einzumummen, während O'Rourke Ausflüge in die Stadt unternahm. Oberflächlich betrachtet schien das sogar sinnvoll zu sein; sie hatten beide kein Visum, gingen davon aus, daß die Behörden nach Kate suchten, und sie konnten weder die amerikanische Botschaft noch UNICEF, noch die WHO, noch eine andere Familienorganisation um Hilfe bitten.
    Aber O'Rourke konnte seine Beziehungen zu den wenigen hiesigen katholischen Kirchen oder dem Hauptquartier des einzigen rumänischen Franziskanerordens spielen lassen, um Kontakte herzustellen. Und ihr erstes Ziel war es gewesen, Mr. Popescu zu finden, den Verwaltungschef des Krankenhauses, wo Kate gearbeitet und Joshua gefunden hatte. Es gab keinen logischen Grund anzunehmen, daß der schmierige kleine Beamte Teil der Verschwörung war, ihren Adoptivsohn zu entführen, aber Popescu zu suchen war immerhin ein Anfang.
    Doch O'Rourke hatte ihn nicht gefunden - Anfragen befreundeter Priester im Krankenhaus hatten nur ergeben, daß Popescu im Urlaub war -, und nach drei Tagen trieb die Frustration Kate aus ihrem Versteck, wenn nicht sogar direkt an

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