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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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den Rand des Wahnsinns.
    Der Dacia sprang nach vielem Herumhantieren am Choke an, dann fuhren sie auf dem Kopfsteinpflaster des Bulevardul Schitu Magureanu westlich am Cişmigiu-Park entlang. Obwohl man erst die zweite Oktoberwoche schrieb, waren die meisten Bäume entlang der Straße schon kahl. Eisregen prasselte auf die Windschutzscheibe, aber nur der Wischer auf der Fahrerseite funktionierte und wippte quietschend hin und her wie ein einziger langer Fingernagel auf einer Schiefertafel.
    »Erzähl mir noch einmal von der Arabischen Studentenunion«, sagte Kate.
    Lucian sah sie an. Schattenstreifen von vereinzelten Straßenlampen, die zur regennassen Windschutzscheibe hereinschienen, zogen über ihr Gesicht. In diesem Herbst funktionierten nur die wenigsten Straßenlampen in Bukarest, aber der Dacia war auf den breiten Bulevardul Gheorge Gheorghiu-Dej gekommen, und hier funktionierten einige. Die Straße war so gut wie menschenleer.
    »Die Araber besuchen die Universität mit Vollstipendien«, sagte Lucian, »aber fast keiner nimmt an den Vorlesungen teil. Sie verbringen ihre Jahre hier als Geldwechsler und Schwarzmarkthändler. Die Arabische Studentenunion ist für vieles davon das Zentrum.«
    Kate versuchte, auf die Straße hinauszusehen, aber die Windschutzscheibe vor ihr war eine einzige wogende Masse eisigen Graupels. Als sie auf die noch breitere Straße Splaiul Independenţei abbogen, sah sie nach dem dunklen Kanal zu ihrer Rechten.
    Die unvorstellbare Masse des unvollendeten Präsidentenpalastes konnte man gerade noch hinter Schuttfeldern und hohen Zäunen erkennen. Ein oder zwei Lichter waren in dem riesigen Gebäude angeschaltet, aber die betonten nur die Hoffnungslosigkeit und den unmenschlichen Maßstab des Gebäudes. Kate erschauerte. »Und der Mann, den wir besuchen, könnte etwas über Joshua wissen?«
    Lucian zuckte die Achseln. »Meine Verbindungsleute sagen, daß Amaddi Verbindungen zur Nomenklatura unterhält. Er ist ihnen auf jeden Fall zu Diensten, wenn sie sich mit dem Schwarzmarkt auseinandersetzen. Es könnte sich lohnen, mit ihm zu sprechen ...« Lucian sah sie an. »Aber es ist Wahnsinn, daß Sie mitkommen, Kate. Ich kann ...«
    »Ich will mit ihm reden«, sagte Kate. Ihr Tonfall duldete keinen Widerspruch.
    Lucian zuckte erneut die Achseln. Er deutete auf die Medizinische Fakultät der Universität, als sie daran vorbeifuhren, und bog dann wieder nach Norden ab, an einer Reihe verfallener Wohnheime vorbei, dann durch eine lange Straße, wo rechts und links baufällige Mietskasernen der Stalin-Ära aufragten. Zerrissene Vorhänge wehten aus zerschmetterten Fensterscheiben, und es gab Löcher im Mauerwerk, die groß genug waren, daß ein Mensch durchgehen konnte. Der Regen hatte ein wenig nachgelassen, und Kate konnte große Ratten erkennen, die vor dem Licht der Scheinwerfer flohen. Vor dem Eingang zum Gebäude, vor dem sie anhielten, flatterte ein Vorhang aus zerrissenem Maschendraht.
    »Die stehen leer, richtig?« sagte Kate.
    Lucian schüttelte den Kopf. »Nein, das sind die Wohnheime der Araber.«
    Kate kurbelte das Fenster hinunter und konnte hinter einigen der zerrissenen Vorhänge schwache Lichter ausmachen, bei denen es sich um Laternen handeln konnte.
    Lucian deutete auf ein flacheres Gebäude ohne Fenster, dessen Mauern und die einzige Tür mit Graffiti besprüht waren. »Das ist die Studentenunion. Amaddi hat gesagt, daß er sich hier mit uns treffen möchte.«
     
    Weder im Foyer noch in der Diele brannte Licht. Lucian klickte ein Feuerzeug an, worauf Kate gesprungene und schmutzige Fliesen und einen Flur sehen konnte, der fast völlig mit Kartons und Kisten zugestellt war. Als sie Lucian folgte, der sich zwischen den Kisten hindurchzwängte, konnte sie sehen, daß die Kisten mit Aufschriften wie PANASONIC und NIKE und SONY und LEVI‘S versehen waren. Am Ende des Flurs befand sich eine geschlossene Metalltür. Lucian klopfte zweimal, wartete eine Sekunde und klopfte dann einmal. Die Tür ging quietschend auf, Lucian klickte das Feuerzeug aus und trat beiseite, um Kate den Vortritt zu lassen.
    Das Zimmer war groß, mindestens zwanzig Meter im Quadrat, und an den Wänden stapelten sich noch mehr Kisten und Kartons. Eßtische und Plastikstühle lagen auf einer Seite durcheinander, ein einziger Tisch mit einer Laterne darauf war am gegenüberliegenden Ende des Raums aufgestellt worden. Der dunkelhäutige, bärtige Mann, der ihnen die Tür aufgemacht hatte, deutete auf diesen Tisch

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