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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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Priester: »Das ist ein Volkslied.«
    »Nach Tschernobyl«, sagte Lucian, »haben wir hier gefragt, was die drei kürzesten Dinge der Welt sind.«
    »Und was sind sie?« fragte Kate und trank den letzten Schluck Tee.
    »Die rumänische Verfassung, die Speisekarte in einem polnischen Restaurant und die Lebenserwartung eines Feuerwehrmanns in Tschernobyl.«
    Danach saßen sie mehrere Minuten schweigend in der Dunkelheit. Regen prasselte auf das Dach.
    »Was meinen Sie, wird aus Gorbatschow und der UdSSR werden?« wandte sich O'Rourke an Lucian.
    Der Medizinstudent kicherte leise. »Beide sind ausgestorben, aber noch weiß es keiner. Als Gorbatschow im August nach dem versuchten Staatstreich zurückkam und verkündete, daß er immer noch an das marxistische System glaubt, hat er selbst verkündet, daß er überflüssig ist.«
    »Und die Nation?« fragte Kate.
    Lucian schüttelte den Kopf. »Es gibt keine Nation, lediglich ein Imperium, das seine angeschlossenen Mitgliedsstaaten nicht mehr zu Unterwürfigkeit zwingen kann. Die Sowjetunion befindet sich schon längst auf dem Scherbenhaufen der Geschichte, genau wie das sozialistische Rumänien. Keiner der beiden Organismen war so anständig einzusehen, daß er tot ist ... ein Nosferatu.« Er trommelte mit den Fingern auf dem Plastiklenkrad. »Aber Rußland hat Jelzin, und das ist ein Mann mit Ambitionen ... mit großen Ambitionen. Ich sehe ein Funkeln in seinen Augen, das mich an unser ehemaliges Staatsoberhaupt hier erinnert. Jelzin wird die Hoheit Rußlands nächstes Frühjahr dazu benützen, die UdSSR aufzulösen.«
    »So schnell?« fragte Kate.
    »Möglicherweise noch schneller. Es würde mich nicht wundern, wenn die C.C.C.P. am Neujahrstag offiziell zu Grabe getragen wird.«
    »Und wenn Gorbatschow ...«, begann O'Rourke.
    Lucian hielt die Hand hoch und bat um Ruhe, dann beugte er sich nach vorne und wischte die beschlagene Windschutzscheibe ab.
    Das elektrische Tor von Radu Fortunas Anwesen ging auf. Kate ließ sich tiefer in den Sitz sinken und überlegte sich dabei, daß es albern war, sich verstecken zu wollen.
    Ein schwarzer Mercedes fuhr zum Tor heraus, bog auf der Straße nach links ab und fuhr davon. Das Licht der Scheinwerfer glitt ohne zu verweilen über den Dacia hinweg.
    »Ist er das?« flüsterte Kate.
    Lucian zuckte die Achseln, ließ den Dacia nach drei knirschenden Fehlversuchen an und fuhr aus der Gasse, als der Mercedes gerade abbog. Der Dacia schepperte und rasselte, als Lucian auf der Kopfsteinpflasterstraße auf vierzig oder fünfzig Stundenmeilen beschleunigte, ohne die Scheinwerfer einzuschalten. Sie bogen in die Strada Galati ein und sahen die Rücklichter des Mercedes drei Blocks voraus. Lucian saß über das Lenkrad gebeugt und trat das Gaspedal bis zum Anschlag durch. Der Dacia beschwerte sich noch lautstärker, dröhnte und rasselte aber weiter die verlassene Straße entlang.
    »Folgen Sie diesem Wagen«, flüsterte Kate.
    Sie blieben in Sichtweite des Mercedes, während sie auf der Strada Galati nach Norden fuhren, in leichten mitternächtlichen Verkehr gerieten - überwiegend Lastwagen -, den sie als Deckung nutzten, als sie den Boulevardul Ilie Pintilie westwärts nahmen und den Mercedes um ein Haar verloren, als dieser am Kreisverkehr der Piaţa Victoriei verschwand. Lucian vermutete zu Recht, daß die Limousine nach Norden auf die Şoseaua Kiseleff abgebogen war, und nach einem Augenblick nervenzerreißender Spannung sahen sie den Mercedes wieder, wie er zwei Blocks entfernt über eine Kreuzung raste. Lucian peitschte den Dacia auf fast neunzig Stundenkilometer, bis der Mercedes nur noch einen Block entfernt war, dann verlangsamte er wieder und wahrte einen konstanten Abstand. Hilfreich war, daß alle anderen Autos und Lastwagen auf der Straße sich auch nicht an die Geschwindigkeitsbegrenzungen hielten.
    Sie blieben auf der Straße von Bukarest nach Ploieşti, ließen die Alleen der besseren Stadtviertel hinter sich, passierten riesige Gebäude und Monumente, die dunkel und stumm in der Nacht ruhten, und dann waren sie auf dem Land, wo sich Felder auf beiden Seiten erstreckten. Der Mercedes fuhr, ohne zu verlangsamen, an der Zufahrt zum Flughafen Otopeni vorbei, aber Lucian bremste den Dacia auf sechzig Stundenkilometer ab, als sie die altbekannten Militär- und Polizeifahrzeuge an der Straße zum Internationalen Flughafen sahen. Hinter Otopeni gab er wieder Gas und ließ nur einen Lastwagen zwischen dem Mercedes und dem

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