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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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kriechen. »Nun, mit diesem jungen Priester persönlich habe ich eigentlich nicht gesprochen ...«
    »Aber du weißt, daß er es bis in die Anlage hinein geschafft hat?« wollte Kate wissen. Ihre Brust fühlte sich eingeschnürt, als würde jemand ein Band aus Stahl darum legen und festziehen.
    »Ja!« sagte O'Rourke, kroch weiter und murmelte etwas, das Kate nicht verstand.
    »Was war das?«
    »Ich sagte, der Priester ist als Junge hier durchgekrochen«, sagte O'Rourke und stieß heruntergestürzte Steine aus dem Weg. Die Taschenlampe erzeugte eine Korona um sein Haar und den Bart.
    »Als Junge!« Kate packte O'Rourkes Stiefel. »Wie klein war dieser Junge denn, gottverdammt?«
    Der Priester hielt wieder inne und rang nach Luft. »Ich weiß nicht. Ich glaube, nicht allzu klein. Ich hoffe es.« Er kroch weiter, wobei seine Schultern auf beiden Seiten an Fels streiften.
    Ein paar Minuten später zog Kate gerade eine Wurzel aus dem Weg und bestaunte deren seltsame, gegliederte Form, als sie sich auf die Ellbogen stützte und sagte: »O'Rourke ... Mike ... leuchte mit dem Licht hierher, ja?«
    Sie hielt einen menschlichen Unterarm in der Hand; der Zwischenraum zwischen Elle und Speiche war dicht mit Erde verklebt. Sie ließ ihn hastig los und zwängte sich auf einer Seite daran vorbei.
    »Das ist gut«, flüsterte O'Rourke. »Wir müssen unter dem Friedhof auf dem Gelände sein. Gleich hinter der Kirche.«
    Kate nickte und strich sich das Haar aus den Augen. Sie hatte als Medizinstudentin mit Leichen zu tun gehabt und als Ärztin bei Autopsien geholfen, daher verspürte sie keine unziemliche Angst vor den Toten. Sie hätte nur gerne vorher Bescheid gewußt, wenn sie es mit einem Leichnam zu tun bekam.
    In diesem Augenblick ging die Taschenlampe aus. Kate zuckte zusammen und spürte auch, wie O'Rourkes Körper mehrere Sekunden zur Bewußtlosigkeit erstarrte. »Scheiße«, flüsterte er und schlug mit dem Handballen mehrmals auf die Taschenlampe ein. Nicht einmal ein Flackern. Kate hielt O'Rourkes rechten Knöchel umklammert, während dieser sich an den Batterien zu schaffen machte und wieder auf die Taschenlampe schlug. Nichts. Sie spürte Nervosität, die wie ein elektrischer Strom durch ihn floß; seine Haut wurde klamm, die Muskeln hart wie Marmor. Jetzt war es, als wären seine beiden Beine Prothesen.
    »O'Rourke?« flüsterte sie. »Mike?«
    Stille. Sie spürte, wie er die Haltung veränderte, bis er auf dem Rücken lag, und nach dem leisen Rascheln und Zucken des Körpers konnte sie sich vorstellen, daß er die Hände hob und mit den Fingern die Tunneldecke abtastete, als wäre sie sein Sarg. Sein Atem war flach und viel zu schnell.
    »Mike?« flüsterte sie noch einmal und streckte die Hand höher aus, damit sie ihn am Arm berühren konnte. Sie konnte die Vibration spüren, die sich tief in ihm aufbaute, gleich dem ersten Beben tektonischer Platten, die sich nach jahrelangem Druck eines Berges verschieben.
    »O'Rourke«, schnappte sie. »Gib Antwort.«
    Er gab ein Geräusch von sich, das irgendwo zwischen einem Räuspern und einem Stöhnen lag.
    »Gib Antwort«, flüsterte sie wieder, nicht mehr so schneidend. »Schon gut. Wir kommen auch ohne Licht durch. Wir kriechen einfach weiter, ja?« Sie drückte seinen Arm. Es war, als würde sie eine Granitstatue berühren, die schwach vibrierte.
    Er gab noch ein Geräusch von sich, dann flüsterte er etwas Unverständliches.
    »Was?« Kate streichelte den Rücken seiner geballten Faust.
    Seine Stimme klang nervös und verkrampft. »Zu viele Tunnel unter dem Gelände. Nur dieser hier führt zur Kirche.«
    Kate drückte seine Hand. »Na und? Bleiben wir eben in diesem. Kein Problem.«
    Er zitterte, als hätte er Fieber. »Nein. Wir könnten unter dem Tor hindurchkriechen und in ein anderes Abwassersystem gelangen.«
    »Werden wir kein Licht sehen?« flüsterte Kate. Sie konnte die Ratten hinter sich wuseln hören. Wenn das Licht sie nicht fernhielt, konnten sie über ihre Beine laufen ... ihr Gesicht.
    »Ich ... weiß ... nicht ...« Sein Flüstern verstummte, das Zittern wurde schlimmer.
    Kate drückte sein Bein oberhalb des Knies. »Mike, hast du heute nacht zum ersten Mal mit einer Frau geschlafen, seit du Priester geworden bist?«
    »Was?« Die Silbe wurde gehaucht.
    Kate zwang sich, im Plauderton zu sprechen, fast heiter. »Ich habe mich nur gefragt, ob Priester so etwas öfter machen ... ihre Gelübde übertreten, meine ich. Du mußt doch jede Menge Gelegenheit

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