Kinder der Nacht
Baby war noch am Leben. Es lag auf dem Rücken und sah mit großen Augen zu ihnen auf, während es die kleinen Fäuste ballte und öffnete. Der abgesehen von seiner unförmigen Babywindel nackte unidentifizierte männliche Patient Nr. 2613 - bald schon Joshua Arthur Neuman - hatte die Bettdecke von sich gestrampelt, die nicht wieder hochgezogen worden war, und sah ein wenig wie ein hilfloser kleiner Vogel aus, der vorzeitig aus dem Nest gefallen ist: aufgeblähter Bauch, Rippen, die sich deutlich unter blasser rosa Haut abzeichneten, winzige Finger, die sich bewegten, und der obszöne Anblick von Nadel und Pflaster, das die unbequeme Nabelschnur des IV-Tropfs festhielt.
Kate wollte die IV überprüfen, aber Lucian nahm es ihr bereits ab und regulierte den Zustrom mit geübtem Griff.
Kate beugte sich über das hohe Gitter des Bettes, senkte das Gesicht zu dem des Babys und küßte es sanft auf die Wange. »Noch ein paar Tage, mein Kleiner.«
Das Baby verzog das Gesicht, als wollte es weinen, dann seufzte es aber statt dessen. Sein Blick wanderte zu Lucian, der sich jetzt über den Rand des Bettes beugte.
»He, Junge«, sagte Lucian mit einem Bühnenflüstern, »Zeit für Neil Diamond.« Dann summte Lucian ein paar Takte von ›Coming to America‹.
Kate hatte die Krankenkarte abgenommen, die am unteren Bettrand an einem Nagel hing, und betrachtete stirnrunzelnd die Laborwerte, die hinzugefügt worden waren, seit sie heute morgen vor ihrem Besuch im Ministerium hereingesehen hatte. »Nun, sie scheinen endlich dazu gekommen zu sein, die zusätzliche Blutanalyse abzuschließen, um die ich vor drei Wochen gebeten hatte«, sagte sie. »Ich hätte es ja selbst getan, wenn es in diesem Saftladen eine Zentrifuge oder ein anständiges Mikroskop gäbe.«
»Wie sieht das Ergebnis aus?« fragte Lucian, der dem Baby mit einem Finger an die Rippen stupste und am Bauchnabel kitzelte.
»Dieselbe geringe Zahl von T-Zellen, die wir auch jetzt haben«, sagte Kate. »Außerdem wurde ein kritischer Mangel an Adenosindeaminase festgestellt.«
Plötzlich schnellte Lucian in eine spöttische Habtachtstellung und sprach rasch und abgehackt, als müßte er Fragen bei einer mündlichen Abschlußprüfung beantworten. »Adenosindeaminase - ein lebenswichtiges Enzym, das erforderlich ist, um toxische Nebenprodukte des normalen Stoffwechsels abzubauen - nicht vorhanden bei seltenen Krankheiten wie Adenosindeaminasemangel.« Lucian schlug die Augen auf, dann sprach er mit ernster Stimme weiter. »Es tut mir leid, Kate. Das ist nicht heilbar, oder?«
»Doch, selbstverständlich«, schnappte Kate und knallte die Krankenkarte so fest auf die Heizung, daß das Scheppern von Metall auf Metall durch das kleine Zimmer hallte. »Es ist eine ungemein seltene Störung - möglicherweise nicht einmal dreißig Kinder weltweit -, aber sie ist heilbar. In den Staaten benutzen wir ...«
»Ein synthetisches Enzym namens PEG-ADA«, vollendete Lucian ihre Ausführungen. »Aber ich bezweifle, daß es irgendwelches PEG-ADA in Rumänien gibt. Wahrscheinlich nicht einmal in ganz Osteuropa.«
»Nicht einmal in den Krankenhäusern der Partei?«
Lucian schüttelte langsam den Kopf. Kate stellte fest, wie kräftig sein Kinn war, wie glatt die Haut seiner Wangen. Er hatte eine runde Hornbrille aufgesetzt, um den Laborbericht zu lesen, aber damit sah er nur noch jungenhafter aus, statt älter und seriöser.
»Ich kann das Enzym für das Rote Kreuz aus Amerika anfordern«, sagte sie. »Aber bis die alle bürokratischen Formalitäten erledigt haben, wird ein Monat vergehen und Joshua an der einen oder anderen Viruserkrankung gestorben sein. Nein, es geht auf jeden Fall schneller, wenn ich ihn mit in die Staaten nehme.« Sie machte eine Pause. »Lucian, du mußt wirklich gut sein, wenn du über Adenosindeaminasemangel Bescheid weißt. Davon haben wahrscheinlich die meisten Ärzte in den Staaten noch nichts gehört. Was hast du bei der Abschlußprüfung bekommen?«
»Viermal A A A«, sagte er. »Herausragend auf allen Gebieten, genau wie meine Liebeskünste.« Er beugte sich wieder über das Bett. »Und du, du kleiner Homunkulus. Du solltest besser zusehen, daß du deinen winzigkleinen transsilvanischen Hintern zusammen mit Doktor Mama Neuman nach Boulder, Colorado, schaffst, damit sie dir eine Spritze hineinjagen können.«
Joshua schien in seinem Bett einen Augenblick über den Vorschlag nachzudenken, dann ballte er die Fäuste, verzog das Gesicht und fing lauthals
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