Kinder der Nacht
etwas Babybrei essen. Joshua bekundete strahlend sein Einverständnis. Julie sah Kate an. »Soll er pünktlich um elf dasein?«
»Ungefähr«, sagte Kate, sah auf die Uhr und räumte ihr Geschirr ab. »Wir haben die MR-Ausrüstung bis ein Uhr reserviert, daher macht es nichts, wenn es ein paar Minuten nach ...« Sie deutete auf Joshuas restlichen Brei. »Macht es dir etwas aus ...«
»Nn-nnn«, sagte Julie, die dem Kind alberne Grimassen schnitt. »Wir essen gern zusammen, oder etwa nicht, Pu?« Sie sah Kate wieder an und bemerkte nicht, daß sie einen Tropfen Milch auf der Nase hatte. »Diese MR-Sache tut ihm doch nicht weh, oder?«
Kate blieb unter der Tür stehen. »Nein. Dieselbe Prozedur wie bisher. Nur Bilder.« Bilder wovon? fragte sie sich zum hundertstenmal. »Ich bringe ihn rechtzeitig zu seinem Schläfchen wieder nach Hause.«
Es machte nicht soviel Spaß, mit dem Cherokee die kurvige Bergstraße hinunterzufahren, als den Miata durch die Windungen zu jagen, aber heute morgen war Kate so sehr mit ihren Gedanken beschäftigt, daß sie den Unterschied gar nicht bemerkte. Als sie in ihrem Büro saß, bat sie ihre Sekretärin, keine Anrufe durchzustellen, und stellte selbst eine Verbindung mit dem Trudeau-Institut in Saranac, New York, her. Es handelte sich um eine kleine Forschungsstätte, aber Kate wußte, daß dort die besten Arbeiten über Nervenendorganmechanismen zellbedingter Unempfänglichkeit bezüglich der Lymphozytphysiologie durchgeführt wurden. Darüber hinaus kannte sie Paul Sampson, den Direktor.
»Paul«, sagte sie, als sie Telefonistin und Sekretärin hinter sich gebracht hatte. »Kate Neuman. Ich habe ein Rätsel für dich.« Sie wußte, daß Paul süchtig nach kniffligen Rätseln war. Das war eine Eigenheit, die er mit vielen der besten medizinischen Forscher gemeinsam hatte.
»Schieß los«, sagte Paul Sampson.
»Wir haben in einem rumänischen Waisenhaus ein achteinhalb Monate altes Baby gefunden. Körperlich sieht das Kind aus, als wäre es etwa fünf Monate alt. Die geistige und emotionale Entwicklung scheint normal zu sein. An körperlichen Leiden haben wir periodische Anfälle chronischer Diarrhöe, hartnäckiges Soor, gehemmtes Wachstum, chronische bakterielle Infektionen und Mittelohrentzündung. Diagnose?«
Nur ein kurzes Zögern. »Nun, Kate, du hast gesagt, es wäre ein Rätsel, also scheidet AIDS aus. Das wäre auch zu offensichtlich, wenn man an das rumänische Waisenhaus denkt. Und du hast gesagt, etwas Interessantes.«
»Jawohl«, sagte Kate. Auf dem Grünstreifen unter ihrem Fenster im CDC war eine Familie Damwild zum Äsen herausgekommen.
»Wurden die Untersuchungen in Rumänien oder hier durchgeführt?«
»Beides«, sagte Kate.
»Okay, dann können wir von einer gewissen Zuverlässigkeit ausgehen.« Es folgte eine Pause, während der Kate hören konnte, wie Paul an seiner Pfeife sog. Er hatte vor fast zwei Jahren aufgegeben, das Ding zu rauchen, spielte aber immer noch damit, wenn er nachdachte. »Wie hoch ist die Zahl von T-Zellen und B-Zellen?«
»T-Zellen, B-Zellen und Gammaglobulin fast nicht vorhanden«, sagte Kate. Die Daten befanden sich in der Akte auf ihrem Schreibtisch, aber sie mußte sie nicht nachschlagen. »Serum-IgA und -IgM deutlich gesenkt ...«
»Hmmm«, sagte Paul. »Hört sich ganz nach Schweizer SCID an. Traurig - und selten -, aber nicht unbedingt ein Rätsel, Kate.«
Sie sah, wie das Wild erstarrte, als ein Auto die kurvige Straße zum Parkplatz des CDC heraufkam. Das Auto fuhr vorbei; die Tiere ästen weiter. »Das ist noch nicht alles, Paul. Ich stimme dir zu, die Symptome scheinen auf Severe Combined Immunodeficiency - Schwere kombinierte Immunschwäche - Schweizer Typus hinzudeuten, aber die Zahl weißer Blutkörperchen ist ebenfalls gering ...«
»Wie hoch ist die WBK-Rate?«
»Weniger als dreihundert Lymphozyten/ my -eins«, sagte sie.
Paul pfiff durch die Zähne. »Das ist seltsam. Ich meine, dagegen sieht der sogenannte ›Junge-im-Glas‹-Fall von SCID harmlos aus. Laut deiner Beschreibung hat dieses arme rumänische Kind drei von vier bekannten Arten von SCID - Schweizer Typus, SCID mit B-Lymphozyten und Retikulardysgenese. Ich glaube, ich habe noch kein Kind mit mehr als einer Manifestation gesehen. Selbstverständlich ist SCID selbst überaus selten, nicht mehr als fünfundzwanzig Kinder weltweit ...« Er verstummte und schwieg, da er ohnedies nur das Offensichtliche aussprechen konnte. »Hast du noch mehr,
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