Kinder der Nacht
des Front Range südlich der Flatirons die Lichter von Boulder und Denver sehen.
Sie und Tom hatten das Haus vor ihrer Trennung gekauft, und obwohl sie ihr ganzes Einkommen für die Anzahlung und die Hypothek verwendet hatten, würde Kate Tom stets dankbar sein, daß er vorgeschlagen hatte, gerade in dieser Gegend nach einem Haus zu suchen. Das Gebäude selbst war groß und modern, aber es verschmolz mit den Felsen und Bäumen der Bergkuppen, durch die Fenster hatte man eine herrliche Aussicht in alle vier Himmelsrichtungen, und es besaß eine wunderbare Veranda mit Blick bergab auf die Flatirons; zwar standen nur eine Handvoll Häuser auf dem sechshundert Morgen großen Areal, aber das ganze Gebiet wurde durch einen Zaun und ein Tor geschützt, das lediglich von den Anwohnern geöffnet werden konnte, nachdem sich der Besucher über Sprechanlage gemeldet hatte. Normalerweise reagierten diese Besucher entsetzt über die unebene Schotterstraße hinter dem Tor. Sämtliche Anwohner besaßen Geländewagen mit Allradantrieb, damit sie mit dem Winterschnee in einer Höhe von zweitausendeinhundert Metern fertig wurden.
An diesem Junimorgen, eine Woche nach ihrem Gespräch mit Alan, stand Kate auf, joggte wie üblich eine Dreiviertelmeile auf dem Rundweg hinter ihrem Haus, duschte, zog ihre gewohnte legere Kleidung bestehend aus Jeans, Turnschuhen und einem weißen Herrenhemd ins CDC an - sie trug nur einen Hosenanzug oder gar ein Kleid, wenn hohe Tiere zu Besuch kamen oder sie zu einer Reise eingeteilt wurde - und frühstückte mit Julie und Joshua. Julie Strickland war eine dreiundzwanzigjährige Studentin und saß gerade an ihrer Doktorarbeit über die Auswirkungen der Umweltverschmutzung auf drei Blumenarten, die man ausschließlich auf gebirgigen Hochwiesen finden konnte. Kate hatte Julie vor drei Jahren durch Tom kennengelernt; die junge Frau war einen ganzen Sommer lang mit Toms Mountain Challenge Tours herumgereist und hatte oberhalb der Baumgrenze in einigen der unzugänglichsten Regionen von Colorado gecampt. Kate war ziemlich sicher, daß Julie und Tom in diesem Sommer einen kurzen Flirt miteinander gehabt hatten, aber aus unerfindlichen Gründen störte sie das überhaupt nicht. Beide waren schon kurz nachdem sie sich kennengelernt hatten, Freundinnen geworden. Julie war still, aber begeisterungsfähig, kompetent und lustig. Als Gegenleistung dafür, daß sie fünf Tage in der Woche auf Joshua aufpaßte, hatte Julie ihren eigenen Teil von Kates hundertsiebzig Quadratmeter großem Haus, konnte jederzeit Kates 386er-PC mit seinem CD-ROM-Speicher für ihre Dissertation benützen, wenn Kate zur Arbeit war, hatte die Wochenenden frei für ihre Exkursionen und bekam ein Taschengeld, das ihr ermöglichte, ihren uralten Jeep aufzutanken.
Beide Frauen waren zufrieden mit dieser Übereinkunft, und Kate graute bereits vor dem Winter, wenn Julie mit ihrer Dissertation fertig sein würde. Kate, die immer Verständnis für das Los arbeitender Mütter gehabt hatte, die sich die Hacken abliefen, um tagsüber eine Aufsicht für ihre Sprößlinge zu finden, hatte schon Alpträume, ob es ihr gelingen würde, eine angemessene Obhut für Joshua zu finden. Aber an diesem wunderschönen Sommermorgen, an dem die Sonne bereits hoch über den Wiesen und Bergkuppen im Osten stand, verdrängte Kate solche Gedanken aus ihrem Kopf, aß ihr Oat-Bran-Frühstück und fütterte Joshua seinen Brei.
Julie, die die Denver Post las, sah auf. »Fährst du heute morgen mit dem Cherokee oder dem Miata zur Arbeit?«
Kate unterdrückte ein Lächeln. Sie hatte mit dem roten Miata fahren wollen, wußte aber, wieviel Spaß es Julie machte, mit dem Roadster den Canyon hinunterzubrausen. »Mmmm ... ich glaube, mit dem Jeep. Mußt du Einkäufe erledigen, bevor du Josh im CDC vorbeibringst?«
Als das Baby seinen Namen hörte, lächelte es und schlug mit dem Löffel auf sein Tablett. Kate wischte ihm Brei vom Kinn.
»Ich habe mir gedacht, ich schau bei King Soopers auf der Table Mesa vorbei. Macht es dir auch wirklich nichts aus, wenn ich mit dem Miata fahre?«
»Nicht, wenn du auf den Kindersitz achtest«, sagte Kate.
Julie verzog das Gesicht, als wollte sie sagen: Na logisch.
»Entschuldige«, sagte Kate lächelnd. »Mutterinstinkt.« Sie hatte es als Scherz gemeint, erkannte aber sofort, daß genau das derart überflüssige Bemerkungen auslöste.
»Josh liebt den Sportwagen«, sagte Julie. Sie nahm ihren eigenen Löffel und tat so, als würde sie
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