Kinder der Nacht
Spiel selten einmal überdrüssig. Was sie über die Natur wußte, wußte sie größtenteils aus Gesprächen mit Tom.
»Den Granit?« sagte er und biß von seinem Sandwich ab. »Eis, das sich ausdehnt und zusammenzieht. Wurzeln von Pflanzen. Die Säure von Fungi hyphae in diesen Flechten. Mit genügend Zeit können Lebewesen aus jedem Berg den Mist herausfressen. Dann verfault die organische Substanz, Kleinlebewesen nisten sich darin ein und reichern sie weiter an, wenn sie verwesen, und voilà ... Dreck.« Er nahm noch einen Bissen.
Kate strich mit den Händen über das karge Gras und die niedrigen Unkräuter, wo Joshua krabbelte. »Und was ist das?«
»Kokardenblume«, sagte Tom hinter dem Sandwich hervor. »Das stachelige Ding dort, in das du Joshua nicht hineinstolpern lassen solltest, ist ein Blattkaktus. Diese spitzen kleinen Dinger sind Mistelzweige und die kelchartigen Hochblätter der Gummipflanze. Dieses schorfige Zeug da auf den Felsen sind Krustenflechten. Für das andere Grünzeug haben wir einen ziemlich wissenschaftlichen Namen ...«
»Und der lautet?«
»Gras«, sagte Tom und nahm wieder einen kräftigen Bissen.
Kate seufzte, legte sich auf der Decke zurück und spürte die brennende Sonne auf der Haut. Der Wind strich über das hohe Gras, kühlte sie ab und ließ dann nach, so daß die Sonne wieder all ihre Sinne ansprechen konnte. Kate wußte, sie sollte sich bei ihrem geschiedenen Mann und einem todkranken Kind nicht so zufrieden fühlen, aber im Augenblick war alles vollkommen.
Sie öffnete ein Auge und betrachtete Tom. Dessen blondes Haar, das auf dem Scheitel immer ein wenig dünn gewesen war, war noch dünner geworden, so daß der ewige Sonnenbrand sich noch höher die Stirn hinauf ausbreiten konnte, aber von dieser Einzelheit abgesehen, sah er noch genauso aus wie der zu groß geratene Junge, den sie vor fünfzehn Jahren kennen- und liebengelernt hatte. Er war immer noch durchtrainiert und fast unanständig gesund, die Unterarme in der muskulösen Symmetrie herausgebildet, wie sie nur Bergsteiger erlangen können. Sein glattes, rosa Gesicht ließ die natürlichen, hübschen Lachfältchen von jemandem erkennen, der nicht nur zufrieden damit ist, wo er sich befindet, sondern auch damit, wer er ist. Tom begrüßte jeden neuen Tag, als wäre er gerade erst auf dem Planeten Erde eingetroffen, frisch und ausgeruht und mit soviel zu tun und zu sehen, daß man es unmöglich in vierundzwanzig Stunden hineinquetschen konnte. Mit ihm zu leben war wie das Bergsteigen mit ihm gewesen - ausgeglichen, ungezwungen, mit viel Zeit, die Namen aller Blumen zu lernen, aber niemals vor dem Ziel umzukehren.
Das Dumme war nur, wurde Kate jetzt klar, daß sie sich nie hatten auf ein Ziel einigen können.
Joshuas Arme rutschten ab und er fiel Gesicht voraus ins Gras. Tom hob ihn hoch und setzte ihn auf einen weicheren Untergrund. Das Baby saß einen Moment da und balancierte, dann kippte es zur Seite. Es krabbelte wieder los und hielt nur einmal inne, um den Geschmack des Bodens zu kosten, auf dem es sich bewegte. Er schien ihm nicht zu schmecken.
Tom sah ihn an. »Müßte er nicht recht bald zu laufen anfangen?«
Kate zupfte einen Grashalm und kaute darauf. »Er könnte es bereits, wenn seine Entwicklung normal verlaufen wäre. So ist er aber immer noch einige Monate hinterher. Wir können uns glücklich schätzen, wenn er mit vierzehn Monaten laufen kann.«
Tom schenkte ihnen beiden Kaffee aus der Thermosflasche ein. »Okay, warum sagst du mir nicht, was die Tests ergeben haben? Ich warte schon die ganze Woche darauf.«
Kate hielt den Plastikbecher unter das Kinn, damit sie das volle Aroma des Kaffees einatmen konnte. »Die Ergebnisse sind verrückt«, sagte sie.
Tom zog eine Braue hoch. »Du meinst versaut?«
»Nein, die Daten sind akkurat. Nur die Ergebnisse sind verrückt.«
»Mußt du mir erklären.« Er stützte sich auf die Ellbogen. Seine blauen Augen waren klar und aufmerksam.
Kate konzentrierte sich darauf, alles für einen Laien verständlich zu erläutern. So sehr sich Tom für die Natur interessierte, Medizin - jedenfalls was über Erste Hilfe hinausging - war etwas, um das er sich nie gekümmert hatte.
»Du weißt vielleicht noch«, begann Kate, »daß ich dir von der zyklischen Natur von Joshs Immunschwächeproblem erzählt habe und daß sie in Zusammenhang mit den Bluttransfusionen zu stehen schien, die er bekam.«
»Ja. Aber du hast gesagt, daß das nicht der Fall sein könnte.
Weitere Kostenlose Bücher