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Kinder der Nacht

Kinder der Nacht

Titel: Kinder der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dan Simmons
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flüsterte ihr »Pst« ins Ohr. Ein weiteres leises Geräusch aus dem Eßzimmer.
    Tom beuge sich wieder zu ihr und flüsterte: »Würde Julie hier raufkommen, wenn sie früher zurückgekommen wäre?«
    Kate schüttelte den Kopf. Sie hatte solches Herzklopfen, daß sie kaum ihre eigene geflüsterte Antwort hören konnte. »Ihre Zimmer sind unten. Sie kommt nachts nie hoch.«
    Sie konnte den Umriß von Toms Kopf im schwachen Schein des Sternenlichts von der Veranda her sehen. Ein Stuhl im Eßzimmer wurde leise angestoßen. Kate hörte die gelockerten Bodendielen am anderen Ende des Flurs quietschen.
    Tom schlüpfte geräuschlos aus dem Bett, beugte sich aber noch einmal über sie und flüsterte: »Ist die Schrotflinte noch da, wo ich sie gelassen habe?«
    Einen Augenblick registrierte sie die Frage gar nicht, aber dann erinnerte sie sich an den Streit wegen der Schrotflinte, weil Tom darauf bestanden hatte, daß sie sie behalten sollte, wenn sie allein hier draußen leben wollte. Sie waren sich erst einig geworden, als er sie ganz hinten in einer unbenutzten Ecke des Schranks verstaut hatte. Sie hatte das Ding loswerden wollen, es nach einer Weile aber schlicht und einfach vergessen. Sie nickte.
    »Hast du sie geladen, wie ich es dir gezeigt habe?« flüsterte er.
    Ein neuerliches Quietschen auf dem Flur. Kate schüttelte mit klopfendem Herzen den Kopf.
    »Scheiße«, flüsterte Tom. Er kauerte neben dem Bett. Seine Lippen berührten wieder ihr Ohr. »Steht die Munitionsschachtel noch auf dem obersten Fach?«
    »Ich glaube ja«, flüsterte Kate. Ihr Mund war schrecklich trocken. Sie strengte sich an, etwas zu hören. Plötzlich quietschte eine Tür, und sie sprang aus dem Bett. »Das Kinderzimmer!« sagte sie laut.
    Tom bewegte sich unglaublich schnell. Die Schranktür wurde mit einem Poltern aufgerissen, bei dem Kate fast aufgeschrien hätte, er schaltete das Licht ein, kam mit der Schrotflinte und einer gelben Munitionsschachtel heraus, verhinderte, daß Kate den Flur entlanglief, indem er ihr eine flache Hand auf die Brust drückte, bevor sie zur Schlafzimmertür hinaus konnte, und rief:
    »Wir sind bewaffnet«, während er drei Patronen in das Magazin schob.
    Sie hörten beide, wie Joshuas Tür aufgestoßen wurde.
    Tom war einen Augenblick später zur Tür draußen und schaltete unterwegs die Lichter ein. Kate folgte ihm mit einer halben Sekunde Abstand. Sie erstarrte, als sie zur Tür von Joshuas Zimmer hineinstolperte.
    Ein großer, schwarzgekleideter Mann hatte sich über Joshuas Wiege gebeugt. In der Sekunde, bevor Tom auf den Lichtschalter in dem Zimmer drückte, sah Kate nur die schwarze Gestalt, die über dem Baby aufragte, sowie das schmale Gesicht des Mannes, das vom Nachttischlämpchen neben dem Kinderbett erhellt wurde. Die Finger der Gestalt waren lang, in Handschuhen versteckt und griffen nach ihrem Sohn.
    Tom schaltete das Licht ein und blieb geduckt mit angelegter Schrotflinte stehen. »Keinen Mucks!« rief er mit kräftiger, beherrschter Stimme. Er war immer noch nackt, aber sein Körper sah, fand Kate, braungebrannt und muskulös aus, und nicht verwundbar in seiner Nacktheit.
    Der Eindringling trug eine Art Gesichtsmaske, aber sein Gesicht war ungeschützt. Er hatte einen breiten, schmalen Mund, eine lange Nase, buschige Brauen und Augen, die für Kate wie dunkle Höhlen aussahen. Das ist ein Alptraum, dachte sie, vom hektischen Klopfen ihres Herzens begleitet.
    Kate war sicher, der Eindringling würde das Baby als Schild benutzen, aber der Mann sah Tom nur mit den schwarzen Höhlen seiner Augen an, dann hob er die spinnengleichen Hände und entfernte sich vom Bett. Tom wich nach links aus, damit das Baby nicht in die Schußlinie geriet, und Kate tastete sich hinter ihm an der Wand entlang.
    »Keine Bewegung«, befahl Tom und lud eine Patrone in die Kammer.
    Der schwarze Mann schien zu nicken, und dann überstürzten sich die Ereignisse.
    Kate hatte Toms Reflexe schon früher miterleben können - er hatte ein Floß gehalten, das in Stromschnellen beinahe gekentert wäre, hielt das Seil, um ihren Sturz zu bremsen, als er ihr das Bergsteigen beigebracht hatte, er hatte einmal einen Sprung gewagt und damit Kate vor einem häßlichen Zusammenstoß mit einem Felsbrocken bewahrt, als sie einen verschneiten Hang hinuntergerutscht waren -, aber der Mann in Schwarz bewegte sich so schnell, daß nicht einmal Tom Zeit zu reagieren hatte. Eben noch stand der Eindringling mit ausgebreiteten Armen drei Meter

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