Kinder der Nacht
sprang durch das Zimmer auf sie zu.
Später konnte sich Kate nicht daran erinnern, daß sie eine Patrone in die Kammer geladen oder die Waffe gehoben hatte. Ebensowenig daran, daß sie abgedrückt hatte.
Aber sie erinnerte sich immer an den schrecklichen Knall, an den Anblick des Mannes, der rückwärts durch das Glas der Schiebetür katapultiert wurde, und an den gräßlichen Winkel seines Körpers auf dem Boden des Balkons über der Schlucht. Tom hatte sich gerade auf die Knie aufgerichtet und schützte sich jetzt vor dem Schauer von Glasscherben.
Kate rappelte sich auf die Füße, stolperte vorwärts und betrachtete durch das zertrümmerte Glas den Leichnam des Eindringlings. Der Schuß hatte ihm fast den linken Arm vom Rumpf getrennt. Sie konnte freigelegte Rippen glänzen sehen.
»Kat!« schrie Tom in dem Augenblick, als der Eindringling wie ein Klappmesser nach vorn schnellte und sie am Knöchel packte.
Sie fiel brutal auf den Rücken und schlug sich den Kopf am Bein des Bettes an. Der Mann zog sich mit dem rechten Arm zu der zerschmetterten Tür herein.
Die benommene Kate, die nur halb bei Bewußtsein war, vergaß ihren hippokratischen Eid und den lebenslänglichen Schwur der Gewaltlosigkeit, hob die Remington, lud die letzte Patrone in die Kammer und schoß dem Mann aus nächster Nähe in Brust und Gesicht, während dieser bereits die Hand an ihr vorbei nach Joshua ausstreckte.
Dieses Mal schleuderte der Schuß den Mann zur Tür hinaus, quer über den Balkon und über das Geländer in die zwanzig Meter tiefe Schlucht dahinter.
Und dann erinnerte sich Kate an gar nichts mehr, abgesehen von Joshua in ihren Armen, der noch weinte, aber unverletzt war, von Toms Armen, die er um sie legte, und von Toms Stimme, die beruhigend auf sie einsprach, während er sie in das hellerleuchtete Wohnzimmer führte und die Polizei anrief.
Kapitel 16
Kate hatte vor Jahren selbst als Assistenzärztin an Ambulanzeinsätzen teilgenommen, aber jetzt war ihr, als hätte sie noch nie vorher Notärzte im Einsatz gesehen. Sie trafen zehn Minuten vor der Polizei ein und schienen ein mit Glasscherben und Blut übersätes Kinderzimmer als etwas Alltägliches anzusehen. Einer der Männer machte sich auf, um in der Schlucht nach Spuren des Eindringlings zu suchen, während die beiden anderen, ein Arzt und eine Ärztin, Toms ausgerenkte Schulter einrichteten, ihm Glassplitter aus dem Rücken zogen und Kate und Joshua untersuchten und für unverletzt erklärten. Kate und Tom zogen sich beide etwas an, weil sie auf die nächste Welle offizieller Ermittler warteten.
Drei Polizeiautos aus Boulder und ein Geländewagen des Sheriffs, deren blaue und rote Blinklichter über die Wiesen strahlten und sich in den Fenstern spiegelten, trafen gleichzeitig ein. Die Notärzte versuchten Tom zu überreden, mit ins Krankenhaus zu kommen, aber er weigerte sich; die Detectives verhörten Tom in einem Zimmer, Kate in einem anderen. Sie gab Joshua nicht aus der Hand.
Leistungsstarke Suchscheinwerfer leuchteten die Schlucht aus, als Tom und Kate ihre Jacken anzogen, Joshua in eine dicke Decke hüllten und vom Balkon aus zusahen.
»Es sind mindestens fünfundzwanzig Meter bis da runter«, sagte der Sheriff. »Und es gibt keinen anderen Weg zum Fluß hinunter, außer über diese Klippe.«
»Es sind nicht einmal zwanzig Meter«, sagte Tom, der am Rand der Granit- und Sandsteinklippe stand. Das Gestrüpp war abgebrochen und zerrissen. Kate konnte den Bach unten in der Schlucht plätschern hören; es war ein Geräusch, an das sie sich so sehr gewöhnt hatte, daß sie es für gewöhnlich gar nicht mehr wahrnahm.
»Der Leichnam hätte flußabwärts gespült werden können«, sagte der Chief Detective von Boulder. Er war jung und bärtig und hatte sich hastig ein Sweatshirt, Chinos und ein Cordjackett angezogen.
»Um diese Jahreszeit ist der Bach ziemlich flach«, sagte Tom. »Nicht mehr als zwanzig bis fünfundzwanzig Zentimeter Wasser an den tieferen Stellen.«
Der Detective zuckte die Achseln. Die Leute des Sheriffs zurrten ein Kletterseil aus Perlon um den Stamm der großen Goldkiefer am Rand der Veranda.
»Sind Sie sicher, daß Sie den Mann nicht erkannt haben?« fragte der Detective Sergeant zum drittenmal.
»Nein. Ich meine, ich bin sicher«, sagte Kate. Joshua schlief in den Falten der Decke; er hatte den Schnuller noch im Mund.
»Und sie wissen nicht, wie er reingekommen ist?«
Kate sah sich um. »Der Sheriff sagte, daß die Küchentür
Weitere Kostenlose Bücher