Kinder der Nacht
entfernt im Zimmer, und im nächsten Augenblick schnellte die schwarze Gestalt sich abrollend über den Teppichboden, schoß unter der Schrotflinte in die Höhe und streckte die Hände nach Toms Hals aus.
Tom war der kräftigste Mann, den Kate je kennengelernt hatte, aber der Eindringling hob ihn wie ein Kind hoch und schleuderte ihn durch das Zimmer. Ein Mobile wurde heruntergerissen, Tom prallte gegen den gerahmten Kunstdruck von N. C. Wyeth an der gegenüberliegenden Wand und torkelte vorwärts, während der Mann in Schwarz ihm nachsprang. Irgendwie gelang es Tom, die Schrotflinte festzuhalten.
»Runter, Kate!«
Sie war auf dem Weg zum Kinderbett, ließ sich aber auf Toms Befehl hin auf den Boden fallen. Kate sah ein Funkeln in den schwarzen Handschuhen und stellte fest, daß der Mann eine Klinge in der Hand hielt und die Hand über der Stelle hob, wo Tom hingestürzt war.
Kates Schrei und der Knall der Schrotflinte ertönten gleichzeitig.
Die Abwärtsbewegung des Eindringlings wurde plötzlich umgekehrt, als lief eine Film rückwärts ab; er flog rückwärts nach hinten, prallte gegen die Wand, wo Kate noch vor einem Augenblick gestanden hatte, und glitt zu Boden. Er hinterließ eine Spur von Blut und schwarzen Wollfasern auf der Tapete mit ihren Enten und Flugzeugen.
Kate lief zum Kinderbett und holte Joshua heraus. Das Baby schrie, und sein Gesicht war vor Angst ganz rot angelaufen, aber es schien unverletzt zu sein.
Tom stand mit offensichtlich verletztem linkem Arm auf und näherte sich dem liegenden Mann vorsichtig. Das Messer, das der Mann in der Hand gehalten hatte, lag jetzt auf dem Boden. Kate hatte noch nie etwas so Kurzes und Tödliches gesehen. Es hatte weder Griff noch Heft, lediglich einen flachen Knauf, der, vermutete sie, genau in die Handfläche paßte. Beide Schneiden der Klinge waren offenbar scharf wie Rasiermesser.
»Vorsicht!« begann Kate, als Tom die liegende Gestalt mit dem Fuß umdrehte. Sie hielt den Atem an. Der Schuß der Schrotflinte hatte ein dreißig Zentimeter durchmessendes Loch in Brust und Rumpf des Mannes gerissen; einige der Schrotkugeln waren in Hals und Gesicht eingedrungen. Eine unvorstellbare Menge Blut war geflossen. Kate betrachtete ihn eine ganze Weile, bevor ihre medizinische Ausbildung die Oberhand gewann. Sie gab Joshua einen Kuß, legte ihn in die Wiege zurück und ging neben dem Mann in die Hocke. Blut tränkte den Saum ihres Nachthemds, und sie zog es unwirsch weg, riß die Überreste des schwarzen Pullovers des Mannes auf und fühlte am Halsansatz nach dem Puls. Sie spürte keinen. Der Eindringling hatte die Augen leicht geöffnet, aber die Pupillen waren so verdreht, daß nur das Weiße zu sehen war.
»Ruf 911 und sag ihnen, sie sollen einen Krankenwagen vom öffentlichen Krankenhaus schicken«, sagte sie. Sie legte den Kopf des Mannes zurück und machte den Mund auf, um Blut und Gewebefetzen zu entfernen.
»Herrgott, Kate ... gib diesem Arschloch keine Mund-zu-Mund-Beatmung. Er ist sowieso tot.«
»Ich weiß«, sagte Kate und beugte sich noch tiefer, »aber wir müssen es versuchen.«
Tom fluchte und lehnte die Schrotflinte an die Wand. Er hob Joshua hoch und ging zur Tür. Kate kämpfte gegen einen plötzlichen Anfall von Übelkeit und senkte das Gesicht über das des Toten.
Der Eindringling riß die Augen auf wie eine Eule. Kate schrie, und er stieß sie beiseite, sprang auf die Füße und setzte hinter Tom und dem Baby her.
Tom drehte sich instinktiv um und schirmte Joshua vor dem Fremden ab. Der Mann landete auf Toms Rücken. Joshua fiel zu Boden und rollte kreischend unter das Bett.
Der Mann in Schwarz warf Tom gegen die Wand, sprang ihn an und streckte die langen Finger nach seinem Hals aus. Tom begegnete dem Angriff mit steif ausgestrecktem Arm und erhobener Handfläche, die die Nase des Eindringlings wie eine überreife Tomate zerquetschte. Der Mann fauchte - das erste Geräusch, das Kate von ihm hörte - und warf Tom drei Meter weit durch das offene Fliegengitter auf den Balkon. Dann wirbelte er herum, was Kate an eine Riesenspinne erinnerte, und wollte unter das Bett kriechen, um Joshua zu holen.
Kates erster und stärkster Impuls war gewesen, ihr Kind zu holen. Aber ihr Gehirn hatte sich über den Instinkt hinweggesetzt, und sie hatte Joshua unterm Bett gelassen und war über den Teppichboden zu der Schrotflinte gekrochen.
Der Eindringling sah, was sie vorhatte. Er ließ das schreiende Kind in Ruhe, schnellte auf die Füße und
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