Kinder des Feuers
sah sie in die Gesichter ihrer Retter, einer abgearbeiteten Frau mit schütterem Haar und ausdruckslosem Blick und eines weißhaarigen, gebeugten Mannes, dessen Gesicht von Zeit und Mühsal des Lebens gefurcht war. Sie wirkten weder sonderlich freundlich noch feindselig.
»Wer bist du?«, fragte der Mann.
Tränen strömten ganz plötzlich aus ihren Augen. Die Schmerzen des Körpers hatten kurz die Pein, die ihre Seele zu ertragen hatte, vertrieben. Nun kehrte sie wieder.
Ich weiß es nicht, hätte sie am liebsten gesagt, ich weiß doch nicht, wer ich bin!
Stattdessen brachte sie heiser hervor: »Ich muss nach Pˆıtres, zu Sprota.«
»Wer ist Sprota?«
Trotz allem war sie erleichtert, bei Menschen zu sein, in deren Ohren dieser Namen fremd klang, die noch nie etwas von Graf Wilhelms Konkubine und Mutter seines Sohnes Richard gehört hatten, die darum auch nichts von ihrem Geschick erahnen konnten: dass sie offenbar die Erbin eines fremden Reichs war. Dass man sie zu töten versucht hatte. Dass sie am Ende selbst getötet hatte.
»Bringt mich zum nächsten Ort!«, flehte sie. »Dort gibt es sicher einen Wochenmarkt, wo sich viele Menschen treffen. Vielleicht weiß jemand von diesen, wer Sprota ist … und wo Pˆıtres liegt.«
Die Frau starrte sie an und wirkte nicht länger ausdruckslos, sondern streng. »Noch kannst du nirgendwohin gehen. Noch bist du viel zu schwach dazu.«
Die Worte klangen so entschieden wie die einer Mutter, die wusste, was das Beste für ihr Kind ist – und Mathilda war erleichtert, dass da eine war, der sie sich fügen musste, und dass sie nicht allein Entscheidungen zu treffen hatte, sondern sich ganz den warmen Händen überlassen konnte. Fürs Erste bestand sie nicht länger darauf, zu Sprota zu gelangen.
Das Fieber sank, die Schürfwunden verheilten, der Schmerz in ihrem Kopf ließ nach. In den Tagen, die folgten, stellte man ihr keine Fragen mehr. Erst als sie stark genug war, aufzustehen und ihre Kutte überzustreifen, die die Frau in der Zwischenzeit gewaschen und geflickt hatte, wollte der Mann wissen: »Bist du eine Nonne?«
»Eine Novizin«, sagte Mathilda leise und mit gesenktem Blick.
»Auf der Flucht vor den Nordmännern?«, fragte die Frau.
Mathilda zögerte. Offenbar lebten die Menschen hier einsam und wussten nicht, dass man vor Nordmännern nicht mehr floh, sondern das Land ihnen gehörte. Vielleicht aber wussten sie es auch und glaubten nur nicht daran. Sie nickte trotzdem.
»Hier bist du in Sicherheit«, sagte die Frau und erklärte dann, wie ihr Mann und sie hießen: Pancras und Ingeltrude.
Mathilda sprach die beiden Namen aus, und kurz war die Versuchung groß, einfach bei den beiden zu bleiben. Was sollte sie bei Sprota, hier konnte sie doch auch leben, konnte auf dem Feld arbeiten, konnte sich vormachen, als Kind dieser Bauern geboren zu sein, konnte den aufgewühlten Geist mit harter Arbeit betäuben, bis keine quälenden Fragen mehr offen blieben.
Doch Ingeltrude und Pancras waren nicht mehr jung. Irgendwann würden sie sterben, irgendwann wäre sie wieder allein auf der Welt.
»Ich muss nach Pˆıtres zu Sprota«, sagte sie.
»Ich habe diesen Ort mein Leben lang nie verlassen«, erklärte Ingeltrude.
»Aber ich bin manchmal im Wald jagen«, schaltete sich Pancras ein, »es gibt dort einen Waldhüter … Vielleicht kann er dich zum nächsten Dorf führen, und vielleicht kennt man dort den Weg nach Pˆıtres.«
Es dauerte einige Tage, bis sie ihr Ziel erreichte, und in jener Zeit sprach sie kaum. Die Menschen, die sie geleiteten, waren allesamt wortkarg – sowohl Pancras und Ingeltrude als auch der Waldhüter, zu dem sie sie brachten und der zumindest Sprotas Namen schon einmal gehört hatte, schließlich die Frau auf dem Wochenmarkt im nächsten Dorf, die der Waldhüter ihr vorstellte. Sie hatte einen eigenen kleinen Stand und verkaufte dort Hühner und Eier. Beides pries sie mit lauter und schriller Stimme an, doch sobald die Waren verkauft waren, war es schwer, auch nur ein Wort aus ihr herauszubekommen. Erst auf mehrmaliges Nachfragen des Waldhüters antwortete sie: Ja, sie wisse, wer Sprota sei, ja, sie sei einst mit ihrem Mann, einem fahrenden Händler, durchs Land gezogen, sie könne ihr den Weg nach Pıˆtres zeigen. Der Waldhüter gab sich damit zufrieden, doch kaum ging er fort, verstummte die Frau wieder, wollte Mathilda weder ihren Namen sagen noch, wie versprochen, den Weg zeigen.
Bald gab sie es auf, sie zu bedrängen. Das Dorf war
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