Kinder des Feuers
waren, um zu handeln. Niemand stellte sich ihr in den Weg, schon hatte sie die Pforte erreicht.
Das Geschrei hinter ihr wurde lauter, nachdem die anderen Mauras Leichnam entdeckt hatten. Mathilda öffnete den Riegel, der das Tor verschloss, und stemmte ihr ganzes Gewicht dagegen, um ihn beiseitezuschieben. Es war den Schwestern verboten, das Tor eigenmächtig zu öffnen. Aber nichts konnte noch verbotener sein, als ein Leben auszulöschen, wie sie es getan hatte.
Der Riegel quietschte, das Tor knarzte, als sie den sicheren Hort der letzten Jahre verließ. Kurz fühlte sie sich wie einst, da sie aus Saint-Ambrose fliehen musste: vollkommen verloren.
Da war das graue Meer, da waren menschenleere Hügel, da waren dunkle Wälder. Da war nichts, was Schutz und Zuflucht versprach.
Sie rannte los – mit nichts anderem auf dem Leib als ihrer blutverschmierten Kutte. Das Geschrei hinter ihr wurde schwächer, keine der Nonnen folgte ihr, und als sie sich nach einer Weile umdrehte, waren selbst die Klostermauern aus ihrem Blickfeld verschwunden. Keuchend sank sie zu Boden und wischte sich die Hände am feuchten Moos ab. Wieder war sie eine Heimatlose, eine Flüchtende … eine Mörderin.
Nein, regte sich da in ihr Protest. Nein – eine Mörderin war sie nicht. Sie hatte sich im Kloster jahrelang vor der Welt versteckt, aber sie wusste dennoch, dass es auf dieser Welt viel mehr gab als Schwarz und Weiß und dass nicht jeder, der tötete, ein gemeiner Mörder war.
Mathilda erhob sich wieder. Was immer sie getan hatte, es durfte sie nicht lähmen – weder ihre Beine noch ihre Gedanken. Fieberhaft überlegte sie, was sie tun konnte, um zu überleben. Maura hatte sie die Kraft ihres Körpers entgegengesetzt, der Einsamkeit nun das Wissen, dass es da draußen Menschen gab, die ihr vielleicht helfen würden.
Arvid. Gerloc. Sprota.
Arvid lebte im Kloster und hatte gewiss längst die Ewige Profess abgelegt. Gerloc hieß nicht mehr Gerloc, sondern Adela und lebte in Poitiers – und der Weg dorthin war viel zu weit. Also blieb nur noch Sprota, die den Müller Esperlenq geheiratet hatte und in Pˆıtres lebte.
Vielleicht war auch der Weg in jene Stadt zu weit, dennoch lief sie los.
Da sie die Richtung nicht kannte, ging sie einfach dorthin, wo der Boden nicht zu matschig war, die Bäume nicht zu dicht standen und dornige Ranken sich nicht in ihre Haut schlugen. Der Frühling kämpfte noch mit dem Winter, die Nächte waren eiskalt, die Tage klar, die Welt bereit, ihre Fruchtbarkeit zu beweisen, indem sie grüne Triebe aus dem Braun und Grau sprießen ließ. Doch wenn sie auch manch Farbenfrohes schuf – Sättigendes war noch nicht dabei.
Wie einst, als sie sich mit letzter Kraft ins Kloster gerettet hatte, beschwor der erschlaffte Geist Erinnerungen an Arvid herauf und wie er sie beschützte. Doch selbst, wenn sie sich dem Trug hingeben konnte, dass er an ihrer Seite war, und ihr das Elend wie einst das Bekenntnis abrang, dass er der Wichtigste im Leben war, der Prägendste, und der, den sie liebte – auch Liebe machte nicht satt und nur im Herzen warm, nicht in den Gliedern.
Drei Nächte zählte sie, da sie unterwegs war, schlammiges Wasser aus Bächen trank, aber sonst nichts zu sich nahm und der knurrende Magen zunehmend lauter tönte als der Wille weiterzumachen. Der Geist spiegelte ihr nun nicht mehr vor, dass Arvid bei ihr war, sondern andere Menschen, die ihr Leben begleitet hatten. Schattengleich huschten sie mit ihr über das weiche Moos: die Äbtissin Gisla, Maura und die anderen Schwestern aus Saint-Ambrose, aber auch gesichtslose Gestalten – ihre Mutter, die sie ins Kloster geschickt hatte, um sie vor der bösen Frau zu retten, ihre Amme Cadha, die sie insgeheim verachtete und ihre eigene Tochter Maura zu ihrer Mörderin bestimmt hatte, und dann diese eine Frau, deren Namen sie nicht kannte, aber die ihr vom Drachen und von dem Heiligen Méen erzählt und ihr überdies erklärt hatte, dass ihr Vater böse war. War dies der Grund, warum sie über Jahre keine Erinnerungen an ihn hatte und er nur in den Träumen auftauchte? Weil sie ihn liebte, aber instinktiv wusste, dass er nicht verdiente, von ihr geliebt zu werden?
Mehr als einmal stolperte sie, fiel und kämpfte sich wieder hoch. Sie fragte sich, ob der fremde Vater wohl an der Schwelle des Todes wartete. Als Nordmann würde ihm kein ewiges Leben geschenkt sein, und auch ihre Seele, sobald sie dem Körper entwich, würde nach der Todsünde, die sie
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