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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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begangen hatte, wohl von den Dämonen in die Hölle gejagt werden. Traf man auch dort die Menschen, die man kannte, wie im Himmel, oder war man als Teil der ewigen Pein verdammt, vergebens nach ihnen zu suchen? Sie wusste ja nicht einmal den Namen ihres Vaters, um ihn zu rufen. Desgleichen sie niemand mehr bei ihrem Namen rief. Wenn sie hier starb, würde es keiner von denen, die sie kannten, je erfahren.
    Am vierten Tag gaukelte ihr der Geist nicht länger vor, dass vertraute Menschen an ihrer Seite gingen, sondern nur, dass der Wald zu Ende war, nach dem Wald ein Feld kam und hinter dem Feld ein Haus. Gewiss war auch das ein Trugbild.
    Mathilda glaubte dies so lange, bis sie nahe genug war, um zu erkennen, dass das Haus aus Lehm und aus Holzplanken errichtet, etwas in den Boden eingelassen und von einem Palisadenzaun umgeben war.
    Der Hoffnung, dass in diesem Haus auch Menschen lebten, verweigerte sie sich aber noch. Gewiss hatten es bösartige Dämonen gebaut, um sie zu necken und zu quälen und mit ihrer Sehnsucht zu spielen, sie wäre nicht länger allein auf der Welt.
    Sie war allein, sie würde keinen weiteren Tag mehr überleben, sie würde es nicht einmal zum Haus schaffen.
    Zehn Schritte vor dem Palisadenzaun ragte eine Wurzel aus der Erde, und sie fiel darüber. Bis jetzt hatte sie sich immer wieder aufgerafft, aber wie sie da auf dem freien Feld lag, konnte sie nicht mehr. Mathilda schloss die Augen. Der Tod roch nach Frühlingserde.
    Ingeltrude war eine Frau, die die Menschen mehr fürchtete als die Einsamkeit. Gewiss galt das nicht für alle Menschen – es gab auch gute, so ihren Mann Pancras. Er war einer, der tüchtig arbeitete, der Schmerzen ebenso verschwieg wie die Spuren, die das Alter schlug, der nach dem Tod ihrer ersten Kinder nicht geweint, sondern neue gezeugt hatte und wieder nicht geweint, sondern nur ein Gebet gesprochen hatte, als auch diese gestorben waren. Ja, Pancras war ein guter Mann, bei dem man darauf setzen konnte, dass er morgen derselbe war wie heute. Auf so viele andere Dinge hingegen konnte man sich nicht verlassen, und das lag in Ingeltrudes Augen daran, dass es nebst Menschen wie Pancras auch solche gab, die nicht tüchtig arbeiteten, sondern raubten und brandschatzten, die nicht schwiegen, sondern furchterregend laut brüllten und die nicht für die Seelen der eigenen toten Kinder beteten, sondern die Kinder anderer töteten.
    Ingeltrude war vierzig Jahre alt und war solchen Menschen zu oft begegnet. Als sie geboren worden war, war ihr Haus noch eines von vielen in einem kleinen Dorf gewesen. Dann waren in Scharen die Nordmänner gekommen. Die ersten hatten die Felder zertrampelt, die zweiten einige Jahre später die Häuser angezündet, die dritten kamen nicht mehr, um blind zu zerstören, sondern in Rollos Auftrag, der zu diesem Zeitpunkt kein Pirat aus dem Heidenland mehr war, sondern der neue Graf der Normandie. Unheil brachten auch sie. Sie kamen, die Steuer einzutreiben, und als ein Nachbar sie nicht zahlen konnte, hing man ihn an den Füßen auf, bis alles Blut in seinen Kopf geströmt war. Als man ihn wieder losband, war er krebsrot und tot.
    Die Nordmänner hatten in diesem Augenblick nicht gebrüllt, sondern mit ruhigen Stimmen Wetten abgeschlossen, ob der Kopf irgendwann platzen würde oder nicht. Nun, das war nicht geschehen. Als man den Unglücklichen begrub, war der Kopf auch nicht mehr krebsrot, sondern wachsgelb.
    Die nächsten Nordmänner, die kamen, taten dies nicht in Rollos, sondern in Graf Wilhelms Auftrag, von dem es hieß, er sei ein guter Christ. Ingeltrude traute dem nicht, denn auch wenn man im Dorf nie wieder einen Mann an seinen Beinen aufhängte – Abgaben waren auch weiterhin zu zahlen, überdies so hohe, dass jene Bewohner, die Verwüstung und Ausbeutung überstanden hatten, den Boden als zu hart befanden, entschieden, stattdessen am Meer zu siedeln und Fisch zu fangen und – weil sich am Meer mittlerweile so viele Nordmänner niedergelassen hatte – die dänische Sprache zu erlernen.
    Ingeltrude wollte kein Dänisch lernen und glaubte Pancras nicht, der behauptete, dass die Nordmänner selbst mittlerweile kein Dänisch mehr sprächen, sondern wie Franken lebten. Nein, sie wollte lieber allein mit ihrem Mann zurückbleiben, zusehen, wie die Hütten einstiger Nachbarn zerfielen, sich an die Einsamkeit gewöhnen und Fremden gegenüber misstrauisch sein. Solche Fremden kamen jedoch immer seltener in ihre Nähe. Es hatte sich bis zu den

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