Kinder des Feuers
hohen Mauern Laons, die die Stadt uneinnehmbar machten. Gleichwohl müsste man Richard unbedingt von dort befreien.
Mathilda trat zu Sprota.
»Sprota, sprich zu mir! Was ist mit Richard?«
Sie blickte sie nicht an. »Warum bist du nicht im Kloster geblieben?«, gab sie zurück.
Mathilda wollte nicht lügen, aber auch nicht zu viel von der Wahrheit verraten. »Es war nicht der rechte Ort für mich.«
»Wie merkwürdig …«
»Was ist daran merkwürdig?«
»Dass du dieselben Worte wählst wie … er. Ich habe mich geirrt. Ich dachte, ich täte euch etwas Gutes, wenn ich euch voneinander fernhalte. Ich dachte, ihr schafft es, was ich nicht schaffte: Gleichgültig und blind zu werden für die Welt, mein Herz zu verschließen. Doch nun will er mir helfen … und auch du kommst ausgerechnet jetzt, wo wir jede Art von Unterstützung gebrauchen können. Du vergibst mir doch? Dafür, dass ich dir etwas riet, worin ich selbst scheiterte – nämlich kalt zu werden. Und dass ich zu spät zur Erkenntnis kam – der Erkenntnis, dass Kälte die Seele noch mehr auffrisst als Schmerz.«
Mathilda starrte Sprota verwirrt an. Ihr Gedanken lahmten, zögerlich nur stiegen Erinnerungen hoch – an Sprota, die einst in Rouen versucht hatte, ihre Liebe zu Arvid kleinzureden, der sie allzu bereitwillig geglaubt hatte, die ihre Worte aber nun offenbar bereute.
»Was … was willst du damit sagen?«, fragte sie.
Sprota erhob sich und trat zu den Männern am Kamin.
»Mathilda«, erklärte sie, »Mathilda könnte die Frau sein, die wir brauchen, um unseren Plan umzusetzen. Sie hat lange Jahre an meiner Seite gelebt, sie kennt auch Richard gut. Wenn ich schon nichts tun kann für meinen Sohn … dann sie.«
Mathildas Verwirrung wuchs umso mehr, als Sprota sich wieder an sie wandte. »Ja, wir brauchen dich. Richard braucht dich. Und du verzeihst mir doch, dass ich dir … dass ich euch beiden eingeredet habe, euch im Kloster zu verstecken, obwohl auf dieser Welt doch alles auseinanderbricht, es folglich nirgendwo ein brauchbares Versteck gibt.«
Mathilda begriff immer weniger, doch im nächsten Augenblick wurden Sprotas Worte bedeutungslos. Mathilda erkannte neben den bekannten Gesichtern ein weiteres vertrautes.
Der Atem stockte ihr. Sie spürte ihre schmerzenden Füße nicht länger, nicht den vor Hunger verkrampften Magen. Sie fühlte nur … Glück. Wärmender als das Feuer. Berauschender als Wein. Wohltuender als Sprotas sanfte Berührung.
Unter den Männern, die hier aufgeregt über Richards Zukunft sprachen, war … Arvid.
Die letzten Wochen glichen einem dunklen Traum. Arvid hatte manchmal gehofft, er möge daraus erwachen, und der Verrat von Abt Martin und die neuerliche Flucht aus dem Kloster wären nur ein Gespinst nächtlicher Fantasien. Aber er träumte nicht, er musste eine Entscheidung treffen – und diese führte ihn erst nach Rouen, dann, als er dort all die bestürzenden Neuigkeiten vernommen hatte, nach Pˆıtres, wo sich die Großen der Normandie versammelt hatten, um Pläne zur Rettung des Grafen zu schmieden. Er gehörte zunächst noch nicht zu ihnen, wurde aber in ihrem Kreis willkommen geheißen – weil man ihn als Wilhelms Freund betrachtete und weil man auf niemanden verzichten konnte, der seine Hilfe anbot.
Jetzt wurde aus dem dunklen Traum ein lichter, und jetzt wollte er nicht daraus erwachen, nie wieder. Sie starrten sich an, er ging auf sie zu, murmelte ihren Namen. Er war bei sich wie kaum in den letzten Wochen und zugleich weggetreten, spürte jede Faser seines Körpers und schien jene Szene zugleich aus weiter Ferne zu beobachten. Keinen einzigen klaren Gedanken konnte er fassen, und die Gefühle, die ihn überkamen, waren zu stark, sie zu benennen. In jedem Fall war kein Zweifel dabei, der ihn zurückweichen, der ihn Scheu und Distanz heucheln ließ.
Von allen Sehnsüchten, die ihn angetrieben hatten – die Sehnsucht, zu vergessen, wer er war, die Sehnsucht nach Stille, nach Einsamkeit und nach seinesgleichen, hatte sich nur die eine als nicht vergebens, nicht als Irrweg herausgestellt: die Sehnsucht nach ihr. Er konnte sie nicht länger unterdrücken, konnte sich nur unbändig freuen, dass sie erfüllt wurde, konnte sich – da die Fügung sie vereinte – eingestehen, was er all die Jahre geleugnet hatte: Dass sich ein Leben ohne sie nur wie ein halbes, kein ganzes anfühlte.
Er stand nun unmittelbar vor ihr, und er las in ihrem Blick, dass sie dasselbe fühlte wie er: Sie waren zu oft nur
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