Kinder des Feuers
Mund.
Er beließ es bei den Worten, sie fügte noch mehr hinzu: »Mein Vater war offenbar ein mächtiger Mann … und deswegen trachtet man mir nach Leben. Mir fiel kein anderer Ort ein, wohin ich fliehen könnte, auch wenn ich hier nur in Sicherheit bin, nicht zu Hause.«
»Wenn man kein Zuhause hat, kann man überall leben«, murmelte er. »Wie soll es jetzt weitergehen?«
»Das Einzige, was ich weiß, ist, dass ich bei dir sein will.«
»Warum bist du damals einfach von Rouen geflohen? Warum hast du nicht Abschied von mir genommen?«, fragte er.
»Warum bist du mir nicht gefolgt?«, gab sie zurück.
»Warum bist du mir nach Wilhelms Tod ausgewichen?«
»Und warum verschwenden wir die Zeit für Fragen?«
Ein wehmütiges Lächeln erschien auf seinen Zügen. Er öffnete den Mund, jedoch nicht, um zu antworten, sondern sich vorzuneigen und sie zu küssen. Langsam und zärtlich spielten erst ihre Lippen, dann ihre Zungen miteinander.
Als sie sich atemlos voneinander lösten, waren ihrer beider Gesichter rot und heiß.
»Warum … warum willst du Richard helfen?«, wollte sie wissen.
Er überlegte kurz. »Der neue Abt von Jumièges wollte mich Ludwig ausliefern, und genauso wie dir ist mir dieser Ort als Erster eingefallen, wohin ich fliehen konnte. Aber der eigentliche Grund ist ein anderer. Solange er lebte, fiel es mir schwer, dies einzugestehen, aber als er starb, erkannte ich, dass Wilhelm der beste Freund war, den ich je hatte, ein Bruder, mit dem ich ein Schicksal teilte. Er ist zu früh gestorben, um sein normannisches Erbe und seinen christlichen Glauben ganz und gar zu versöhnen, aber wenn sein Sohn lange genug lebt, kann es ihm vielleicht gelingen. Und du … warum willst du ihm helfen?«
Auch sie dachte eine Weile nach, ehe sie antwortete. »In den ersten Jahren nach meiner Flucht aus Saint-Ambrose habe ich viel Zeit mit Sprota und Gerloc verbracht. Zuerst habe ich mir an Gerloc ein Beispiel genommen und gedacht, dass man glücklich werden kann, wenn man nur lange genug sich selbst verleugnet und seine Vergangenheit hinter sich lässt. Aber später musste ich sehen, wie Gerloc auf diese Weise nicht ihr Glück gefunden, sondern nur ihr Lachen verloren hat. Dann habe ich mir Sprota zum Vorbild genommen, die meinte, dass jemand, der sich gleichmütig zeigt, nicht verletzt werden kann, und einer, der nicht liebt, auch nicht leiden würde. Aber heute Nacht hat sie eingestanden, dass dies ein Irrtum war. Und wenn es uns gelingt, Richard wohlbehalten zurückzubringen, so ist bewiesen, dass Liebe nicht wehtun muss, sondern stark machen und alles zum Guten wenden kann.«
Um zu erklären, dass sie es nicht nur Sprota beweisen wollte, sondern auch sich und ihm, waren Worte zu wenig.
Eine Weile starrten sie sich schweigend an. Dann stellte sie sich auf die Zehenspitzen, küsste ihn wieder, fordernder und hungriger als zuvor. Sie löste ihre Lippen auch dann nicht von seinen, als sie sich auf die Bettstatt sinken ließen. Die Lust, die seine Berührungen in ihr entfachten, war stark wie beim ersten Mal. Ihre Körper verschmolzen wie ihre Münder, sie lernten gemeinsam zu fliegen und sanft wieder zu landen, verloren sich aneinander und fanden sich wieder, nutzten die begrenzte Zeit, die ihnen blieb, indem sie jeden Augenblick in Süße ertränkten, die aus ihren heißen Leibern troff, keuchten und stöhnten lauter als die Angst, dass das lange Aufgeschobene und eben so Erfüllende bald wieder verloren sein könnte, schürten ein Feuer, das taugte, jeden einzelnen Moment tief ins Gedächtnis einzubrennen, auf dass sie ihn auf ewig bewahren konnten.
Erst als es vorbei war, merkte Mathilda, dass sie weinte. Es waren keine Tränen der Verzweiflung, sondern der Hoffnung. Für sie und Arvid, für Sprota, für Richard. Für alle Menschen der Normandie.
In ihren Träumen war sie jung, in ihrem Leben alt – so zumindest war es in den letzten Jahren gewesen. Nun hatte sich ihr Schicksal gewendet. Die Träume schienen alt – kündeten sie doch von einer Zeit, die nicht mehr zählte. In der Gegenwart hingegen war Hawisa wieder jung. Endlich gab es Hoffnung, endlich die Aussicht, nicht länger allein zu kämpfen. Dökkur und Daniel zählten nicht, Hasculf kaum, und auf die Menschen im Cotentin, um deren Unterstützung sie geworben hatten, hatte sie sich nie wirklich verlassen. Doch unerwartet hatte sie neue Verbündete gefunden, und diese würden taugen.
Sie kannte bislang nur ihre Namen, Sedric und Turmod,
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