Kinder des Feuers
plötzlich den Waldrand erreicht, und vor ihr lag eine weite Fläche, nicht von goldenen Feldern bedeckt, nicht von grünen Wiesen, sondern von bunten Zelten und Pavillons. Die Leibknechte von Kriegern hatten diese errichtet – und jene Krieger waren zahlreicher, als sie sie je auf einem Fleckchen Erde gesehen hatte.
Waren es Franken?
Mathilda ging zu Boden und robbte lautlos an eines der Zelte heran, um den Stimmen zu lauschen. Die Menschen darin sprachen Fränkisch, aber mit dem Dialekt der Nordmänner.
Wieder erzitterte der Boden. Rasch sprang sie auf, sah sich nach einem Versteck um, erkannte dann aber, dass keine Pferde auf sie zukamen, sondern nur einige Bauern mit Ochsenkarren, auf denen sie ihre Habseligkeiten – Körbe mit Nahrung, Werkzeuge und Kleidung – mit sich führten. Vor diesen Menschen hatte sie keine Angst.
Mathilda stürzte auf einen der Männer zu.
»Was geht hier vor?«
Die Bauern betrachteten sie mit dem leblosen Blick von Menschen, die eben ihre Heimat aufgegeben hatten, um ihr Leben zu retten.
»Wir ziehen uns in den Wald zurück, jetzt, da die große Schlacht bevorsteht.«
»Welche Schlacht?«
Ehe sie eine Antwort bekam, duckten sich die Bauern. Ein Pferd stob aus dem Wald, trieb Menschen und Vieh auseinander. Der Reiter – edel gekleidet, aber ohne schwere Waffen und darum wohl ein Kundschafter – achtete nicht auf sie. Kaum hatte er sie überholt, zogen die Bauern ihre Ochsen weiter.
Unschlüssig blickte Mathilda ihnen nach. Sollte sie sich den Fliehenden anschließen? Oder es wagen, auf eines der Zelte zuzutreten und darauf zu hoffen, dass einer, der sie kannte, in der Nähe war – Bernhard der Däne oder Osmond de Cent-Villes? Aber konnte man bei Männern, die sich für eine Schlacht rüsteten, die all ihr Denken und Fühlen und Wollen aufs Töten ausrichteten, Mitleid und Hilfe für eine schwangere Frau erhoffen?
Sie zögerte, bis die Bauern aus ihrem Blickfeld verschwunden waren, dann zog sie sich an den Waldrand zurück. Fürs Erste wollte sie beobachten und warten.
Hawisa hatte geahnt, dass Mathilda störrisch war. Nicht, dass sie von Sinnen war, undankbar und selbstsüchtig. Und wenn es auch ihr Blut war und das von Rögnvaldr, das in ihren Adern rauschte – in ihrer ersten Wut hätte sie das Blut am liebsten vergossen. Die einzige gerechte Strafe für die Flucht ihrer Tochter war der Tod.
Am Ende sah sie jedoch ein, dass dies bedeuten würde, sich selbst am allermeisten zu strafen. Es würde also genügen müssen, sie zu schlagen, sie an den Haaren zu zerren, sie hungern zu lassen, sie wieder einzusperren. Irgendwann wäre ihr Wille dann schon gebrochen, so wie jeder Wille brach, der sich nicht rechtzeitig verbiegen ließ.
Sie fluchte in der Sprache ihrer Kindheit und der des Nordens. Nur Bruder Daniel lauschte ihr.
»Was starrst du mich so an?«, schnaubte sie.
»Sie ist nicht die Einzige, die sich gegen dich stellt. Dökkur meint, es habe keinen Sinn, die Verfolgung aufzunehmen. Er wird den Wall nicht verlassen.«
»Ich hätte ohnehin nie auf einen Blinden gesetzt, um eine Flüchtige einzuholen.«
»Aber auch Hasculf ist nicht bereit, sie zurückzuholen.«
Hawisa runzelte die Stirn, erst jetzt ging ihr auf, dass sie Hasculf seit Stunden nicht gesehen hatte.
Verächtlich berichtete Daniel: »Er fragt sich, was er mit einer widerborstigen jungen Frau soll. Ist er nicht Rögnvaldrs Neffe? Was braucht er obendrein dessen Tochter, um die Macht zu ergreifen?«
»Dieser Dummkopf!«, schrie Hawisa.
Offenbar war er gekränkt, weil Mathilda die Ehe mit ihm ablehnte.
»Er ist tatsächlich ein Dummkopf, weil er nicht schon viel früher auf diese Idee gekommen ist und stattdessen – dir treu ergeben – nach Mathilda gesucht hat.«
»Von wegen! Er ist ein Dummkopf, weil Mathilda nicht nur Rögnvaldrs Tochter, sondern die Enkeltochter Alanus des Großen ist. Mathilda vereint die beiden Völker.«
»Mathilda ist vor allem fort«, spottete Daniel.
»Ich werde sie einholen!«, rief Hawisa entschlossen und packte plötzlich seinen Arm. »Und du wirst mit mir kommen.« Sie wollte lieber einen spöttischen Begleiter als gar keinen.
Bruder Daniel ging willig mit ihr, aber die Worte, die er sprach, enthielten neue Schärfe. »Von Mathildas Flucht zu erfahren war nicht die einzige Hiobsbotschaft, die dich heute ereilte, nicht wahr? Stimmt es, dass der Heide Sedric tot ist – der Gefährte Turmods und somit einer der Männer, mit denen du ein Bündnis geschlossen
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