Kinder des Feuers
nach dem Morgenmahl, als Hasculf zur Jagd ausgeritten war und die anderen zu beschäftigt waren, Pläne auszuhecken, um ihr Verschwinden zu bemerken. Die Kraft, über ihr einstiges, vom Meer ausgehöhltes Gefängnis zum Strand zu gelangen, dort immer weiter ostwärts zu gehen, bis sie den Wald erreichten, und sich hier von Eirinn zu trennen, die eine falsche Spur legen und Hasculf in die Irre führen würde. Die Kraft schließlich, sich Richtung Normandie durchzuschlagen, auch nachdem nach einigen Tagen ihr magerer Proviant zur Neige gegangen war.
Vielleicht war diese Kraft – und nicht etwa die Bretagne – ihr wahres Erbe, das sie von ihren Eltern geschenkt bekommen hatte. Mathilda lief zwar vor ihrer Mutter davon, ja, hatte sie keinen Augenblick als ihre Mutter betrachtet, aber sie teilte Hawisas Sturheit und den festen Willen, ein einmal geplantes Ziel zu erreichen. Ihr fremder Vater hatte diesen Willen auch gehabt, und ihn zu brechen hatte nicht das Meer geschafft, das einst zwischen der kargen nordischen Heimat und dem verheißungsvollen Land im Süden stand, nicht die Opfer, die es forderte, dieses Land zu erobern, nicht die Rückschläge – sondern einzig der Tod.
Mathilda aber war nicht tot, sie wollte leben, und sie wollte, dass ihr Kind lebte.
Die Arme, mit denen Rögnvaldr sie auf der Blumenwiese hochgeworfen hatte, waren starke Arme gewesen, und auch ihre waren es – trotz der Auszehrung. Sie schleppte Holz, machte mit einem Feuerstein Feuer, bedeckte hinterher die Asche mit Erde und jagte Tiere – vor allem Hasen, die, von der Frühlingssonne angezogen, auf den Heiden hoppelten und leichter zu fangen waren als die Tiere des Waldes. Mit einer Kälte, die ihr fremd war, erschlug Mathilda sie, bis sie sich nicht mehr rührten. Sie war sich sicher: Wäre es nötig, gleiche Gewalt auch Menschen anzutun, so sich ihr diese in den Weg stellten, würde sie ebenso entschlossen zuschlagen – ähnlich, wie sie Maura ein Messer in die Brust gerammt hatte, weil die Angst vor dem Sterben größer gewesen war als die vor dem Töten.
Mit jedem Schritt, den Mathilda ging, sagte sie sich von ihren Eltern los – aber mit jeder Stunde, die sie überlebte, bewies sie mehr, dass sie ihre Tochter war. Weite Strecken legte sie in Einsamkeit zurück, nur selten stieß sie auf Gehöfte und Dörfer und bettelte um Essen. Meist gab man ihr etwas – entweder, weil sie nur eine Frau und obendrein schwanger war, oder aus Erleichterung, weil die Fremde, die da plötzlich auftauchte, nichts mit den gefürchteten fränkischen Kriegern Rudolf Tortas gemein hatte.
Dieser Name fiel öfter in den Gesprächen mit den Menschen, die ihr auf ihrer Flucht begegneten. Mathilda prägte ihn sich ein, erfuhr auch, dass die Normandie von König Ludwig besetzt war, und ebenso, dass Harald von Dänemark zu Hilfe gerufen worden war, um ihn zurückzuschlagen. Ihr Geist blieb dumpf aufs Überleben und Heimkehren ausgerichtet – solange sie keine Krieger erspähte, ob dänische, bretonische oder fränkische, wollte sie keine Angst haben.
Sie wollte auch nicht an Ludwig oder Richard oder Bernhard denken – nur an Arvid. Er war wie einst ihr unsichtbarer Begleiter, der ihr Zuspruch gab, Mut verlieh und sie bei jedem Schritt darin bestärkte, nicht aufzugeben.
Wo und wie sie ihn finden konnte, wusste Mathilda noch nicht. Die vertrauten Orte Bayeux, Fécamp, Pˆıtres, Rouen schienen ewig entfernt, und eines Tages ließen ihre Kräfte nach. Die Sonne brannte auf sie herab, nicht mehr neckisch wie im Frühling, sondern unbarmherzig wie im Sommer, und das Trachten, die Heimat zu erreichen, entschwand oft hinter dem Wunsch, sich im Schatten eines Baumes auszuruhen, in den blauen Himmel zu starren und die Zeit sinnlos verstreichen zu lassen, anstatt sie zu nutzen.
Nur frühmorgens und abends kam sie zügig voran. Lange orientierte sie sich an der Küste, aber als sie einmal in der Ferne Schiffe erblickte, folgte sie einem Fluss ins Landesinnere. Auch hier gab es genügend Bäume, um vor der Sonne unter ein kühlendes Blätterdach zu fliehen, aber immer öfter wurde sie, wenn sie sich ausruhte, von Lauten aufgeschreckt – Stimmen, Schritten, Pferdegetrappel – und musste hastig fliehen.
Eines Tages – Mathilda war auf der Suche nach Früchten – kam das Hufgetrappel so nahe, dass der Boden erzitterte. Sie floh in ein Stück Wald, verkroch sich im Gebüsch, irrte, nachdem es wieder still war, von Lichtung zu Lichtung.
Und dann hatte sie
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