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Kinder des Feuers

Kinder des Feuers

Titel: Kinder des Feuers Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Julia Kröhn
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Ordenstracht trugen wie sie – solche, die gemeinsam mit dem Sohn eines Nordmannes beteten, schienen in ihren Augen keine wahren Christen zu sein.
    So betrat Arvid die Kapelle gar nicht erst, sondern verharrte im Hof, wo einige Krieger frierend um ein Feuer standen und Mägde zwischen Küche, Vorratsräumen und großer Halle hin- und herhuschten. Er kam an den Thermen vorbei, den Werkstätten, schließlich wieder zum Haupthaus. Keiner achtete auf ihn, dennoch fühlte er sich als Störenfried und war erleichtert, als er in der Nähe des Haupteingangs einen kleinen, abgeschiedenen Raum entdeckte, in dem er kurz für sich sein konnte: Hier waren für gewöhnlich offenbar die Notare am Werk – wie Schreibpult, Pergament und Tintenfass verrieten. Arvid fühlte sich an das Skriptorium von Jumièges erinnert und seufzte wehmütig. Davon, täglich hinter dem Schreibpult zu sitzen und sakrale Texte abzuschreiben, konnte er nur träumen, aber in jedem Fall war er hier allein und ungestört.
    Er strich eben über ein Pergament und wollte hinter dem Schreibpult Platz nehmen, als er ein Stöhnen hörte. Es kam aus der Ecke des Raums und klang kaum menschlich. Arvid versuchte, etwas zu erkennen. Scherben eines Tonkrugs lagen auf dem Boden und daneben … eine Hand – mehr blau als rosig und sehr zart.
    Er stürzte hin, sah jetzt, dass eine Gestalt zusammengekrümmt dort neben den Scherben auf dem Boden lag, beugte sich darüber. Vorsichtig drehte er sie auf den Rücken.
    Das Entsetzen kam langsam. Erst war da nur Wut auf ein bösartiges Geschick, das ihn ausgerechnet in den gleichen Raum mit Mathilda geführt hatte. Doch dann sah er, dass ihr Gesicht so blau war wie die Hand, und alle Scheu vor ihr, aller Hader mit den Erinnerungen an gemeinsam Erlebtes, alles Unbehagen über heimliche Sehnsüchte fielen ab.
    »Gütiger Gott!«
    Er schüttelte sie, doch sie regte sich nicht. Dann versuchte er, sie hochzuziehen, doch sie lag weiter schlaff in seinen Armen. Schließlich schlug er in ihr Gesicht.
    Sie stöhnte wieder, und aus dem Stöhnen wurde ein Wort.
    »Gift …«
    Dann verstummte sie, öffnete die Augen nur und verrollte sie, sodass Arvid nur das Weiße sah. Er tastete ihre Brust ab, fühlte anstelle ihres Herzschlag nur mehr ein Flattern, gleich so, als breite die Seele schon ihre Flügel aus, um sich auf die lange, gefährliche Reise ins Jenseits vorzubereiten. Er hämmerte mit beiden Händen auf den Brustkorb – er musste die Seele mit aller Macht festhalten.
    Arvid wusste zwar, dass es sinnlos war – denn man konnte die Seele nicht sehen, nicht hören, nicht riechen und eben auch nicht fassen. Aber er wusste auch, dass er nicht ertragen würde, sie sterben zu sehen.
    Denn wer sonst würde jemals so tief in seiner eigenen Seele schürfen und mehr finden als das unterdrückte Erbe seines Vaters, wenn nicht sie. Wer sonst konnte ihm beweisen, dass man heftige Gefühle nicht fürchten musste, weil nicht nur zerstörerische wie Hass und Zorn dazugehörten, sondern auch wärmende wie Liebe.

 
    Fast drei Jahre waren sie im neuen Wall, den sie nach der Flucht errichtet hatten, unentdeckt geblieben. Fast drei Jahre hatten sie Zeit, neue Pläne zu machen, Zeit, Hasculf endlich wieder nach Mathilda auszuschicken und Zeit zu hungern. Die meisten Kinder waren gestorben, diejenigen, die noch lebten, so geschwächt gewesen, dass sie nicht mehr gehen konnten. Die Eltern mussten sie auf ihren Rücken tragen, als sie den Wall verließen, und Hawisa war sich sicher, dass sie fernab des Walls das Gleiche finden würden wie hier: den Tod.
    Ihre Männer jagten und fischten. Manch einer überwand seinen Stolz und suchte in den umliegenden Wäldern nach Beeren, Wildobst und Pilzen, wie es nur Weiber taten. Trotzdem neigten sich nun, nach dem Winter, ihre Vorräte dem Ende zu. Doch selbst, wenn sie es noch ein paar Monate ausgehalten hätten – Hawisa ertrug den Stillstand nicht länger. Sie entschied, dass sie noch weiter westwärts ziehen sollten, obwohl die Feinde überall lauern konnten und Verbündete nirgends zu finden waren, und man gehorchte ihr – wenn auch widerwillig und zwiespältig wie immer. Als sie in die mürrischen Gesichter blickte, musste sie sich einmal mehr eingestehen, dass die Macht, die sie hatte, nur darin begründet lag, dass sie keinen anderen Anführer hatten, der willensstark, skrupellos und herrschsüchtig genug war.
    Sie ritten am Meer entlang. Die Steine waren nicht rosig, sondern von gelblichem Gras bedeckt,

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