Kinder des Feuers
sie sah ihn zu selten, um herauszufinden, was in seinem Innersten vorging und wie sie ihn trösten könnte. Angst um die Zukunft des Landes wie viele andere hatte sie nicht. Als eine, die ihre alte Heimat nicht kannte, war es ihr immer schwergefallen, in diesem Stückchen Land eine neue zu sehen. So begnügte Mathilda sich damit, das zu tun, was man auch Arvid in diesen Tagen nachsagte – sie betete viel.
Eines Tages begegnete sie auf dem Weg zur Kapelle Johan. In den letzten Jahren hatten sie sich manchmal getroffen, meist bei den großen Festen rund um Weihnachten und Ostern, wo viel gelacht, getrunken und getanzt wurde. Sie hatte stets nur höflich gelächelt, wenig getrunken und Johans Werben, erneut mit ihm zu tanzen wie einst bei Gerlocs Hochzeit, immer abgewiesen. Sie ahnte, dass es ihn kränkte, auch wenn er es nicht offen zeigte, doch heute stand in seinem Gesicht nichts von der Ungeduld und Eitelkeit eines jungen, vitalen Mannes geschrieben, der sich um die Gunst einer jungen Frau bemühte, sondern Trauer um Wilhelm und Sorge um die Zukunft.
Mit gerunzelter Stirn sprach er über Richard. »Es ist nicht nur sein Alter, das es leicht macht, seine Herrschaft anzufechten«, gab er zu bedenken, »hinzu kommt, dass Wilhelm nie mit Sprota verheiratet war – und wenn wir Normannen dies auch nicht als Versäumnis werten, unsere fränkischen Nachbarn könnten es tun und ihn einen Bastard heißen.«
Missbilligung klang in seiner Stimme mit, auch wenn er unausgesprochen ließ, dass Wilhelms Sehnsucht, ins Kloster zu gehen, diese Heirat unmöglich gemacht hatte.
Anders als Johan konnte Mathilda diese Sehnsucht verstehen, aber auch sie fragte sich unwillkürlich, was ein Wunsch, mochte er noch so fromm sein, wert war, wenn er ein Land fast ins Verderben führte.
»Was denkst du, was nun passieren wird?«, fragte sie.
»Die größte Gefahr droht ohne Zweifel vom fränkischen König«, erwiderte er.
»Ludwig IV. …«
»Man sagt ihm seit langem nach, dass es ihn nach der Normandie gelüstet.«
Mathilda nickte. Wer wüsste das besser als sie, die sie einst Arvids Wunde gesehen hatte, von einem Schergen Ludwigs in sein Fleisch geschlagen.
»Schade, dass Richard nicht der Sohn einer Fränkin ist, sondern der einer Bretonin. Den fränkischen Nachbarn fiele es leichter, ihn zu akzeptieren.«
Ungewohnt scharf gab sie zurück: »Nun, was nützt es, sich vorzustellen, es wäre alles anders. Es ist, wie es ist.«
Es erstaunte sie selbst, was sie sagte – und vor allem: wie. Sie klang wie Sprota. Schicksalsergeben. Resigniert. Und irgendwie … alt. Vor drei Jahren, als sie zuletzt in Rouen gewesen war, hatte sie begehrt, geliebt, Lust empfunden, sich dafür geschämt, Angst um ihr Leben gehabt und gleiche Angst um das Arvids ausgestanden. Doch danach hatte sie sämtliche Gefühle so tief im dunkelsten Seelenwinkel versteckt, dass sie sie nun nicht mehr finden konnte.
Das hieß, vielleicht könnte sie sie finden, aber sie wollte sie nicht suchen. Etwas in ihr war müde und der verbliebene Trotz ein bequemer. Er spornte sie nicht an, mit dem Kopf durch die Wand zu wollen, sondern sie begnügte sich damit, sich vor die Wand zu hocken, den Kopf zwischen den Knien vergraben und sich stur schlafend stellend.
Johans Gesicht hingegen wurde plötzlich ganz weich, als er sie musterte. »Was immer auch kommt und was die Zukunft bringt – ich träume von einem eigenen Stück Land. Und einer Frau, mit der ich es gemeinsam bewirtschafte.« Sein Blick war nicht nur sehnsüchtig, sondern plötzlich auch forschend.
Ich hingegen, hätte sie beinahe gesagt, ich habe verlernt zu träumen. Nicht nur von der Zukunft, sondern auch von der Vergangenheit. In den letzten Jahren war sie weder vom Tod bedroht noch von ihren alten Träumen heimgesucht worden.
»Dann wünsche ich dir, dass du bekommst, was du suchst«, sagte sie lediglich und ließ ihn stehen.
Beim Eingang der Kapelle verharrte sie, anstatt sie zu betreten. Sie ahnte, dass die vertrauten Psalmverse nicht genügen würden, jene Gedanken zum Schweigen zu bringen, die Johans Sinnieren über die Zukunft geschürt hatten – die der Normandie, die Richards, die eigene.
Was würde aus Sprota werden? Was aus ihr? Was aus … Arvid?
Arvid, der es nicht vermocht hatte, ihr in die Augen zu sehen, als sie sich unerwartet gegenüberstanden, der vor ihr geflohen war, wahrscheinlich von Scham überwältigt, weil ihr Anblick Erinnerungen an das beschwor, was einst in Rouen geschehen
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