Kinder des Holocaust
gesetzt, zur gleichen Zeit wie sie geboren.
»Wieso ›natürlich‹?« hatte er gefragt und mit der Untersuchung angefangen; dann hatte er die Eltern ins Nebenzimmer geschickt, weil das Kind in ihrer Gegenwart zuviel Zurückhaltung an den Tag legte.
»Weil er mein Zwillingsbruder ist«, hatte Edie anschließend in ihrer ruhigen, ernsten Weise erklärt. »Wie könnte er denn sonst in mir drin sein?« Und wie das Huhn jenes spanischen Bauchredners hatte sie voller Selbstbewußtsein und Sachverständigkeit gesprochen; auch sie wußte, wovon sie redete.
In den Jahren nach dem Krieg hatte Dr. Stockstill viele hundert recht merkwürdig geratene Menschlein untersucht, zahlreiche sonderbare und fremdartige Abarten der menschlichen Lebensform, die nun allesamt unter einem Himmel im Rahmen ihrer Möglichkeiten gedeihen durften, unter dem – obwohl er so rauchig verschleiert war – weit mehr Toleranz als in früheren Zeiten herrschte. Ihm konnte nichts dergleichen noch Schrecken einjagen. Und doch, mit diesem Kind hatte es wahrhaftig etwas ganz außerordentlich besonderes auf sich – ein Mädchen, dessen Bruder bei ihm im Körper lebte, unten in der Leistengegend. Seit sieben Jahren lebte Bill Keller nun schon darin. Dr. Stockstill glaubte dem Mädchen aufs Wort; er wußte, so etwas war möglich. Der erste Fall dieser Art war es keineswegs. Hätte er einen Röntgenapparat zur Verfügung gehabt, wäre er dazu imstande gewesen, die winzige, verhutzelte Gestalt, wahrscheinlich nicht größer als ein junges Kaninchen, zu sehen. Tatsächlich konnte er mit der Hand sogar die Umrisse spüren ... Er betastete die Seite des Mädchens, befühlte vorsichtig den festen, einer Cyste nicht unähnlichen Beutel im Innern. Der Kopf befand sich in normaler Position, der Körper saß mit den Gliedern und allem anderen in den Hohlräumen des Unterleibs. Wenn das Mädchen eines Tages starb und man ihm den Leib öffnete, eine Autopsie durchführte, würde man darin eine winzige, schrumplige männliche Gestalt finden, vielleicht mit schneeweißem Bart und blinden Augen ... den Bruder, noch immer kaum größer als ein junges Kaninchen. Bis dahin jedoch schlief Bill überwiegend, doch dann und wann unterhielten er und seine Schwester sich. Was hatte Bill zu sagen? Was konnte er denn überhaupt wissen?
Edie hatte auf diese Fragen Antworten. »Na, viel Ahnung von irgend was hat er nicht. Er sieht nichts, aber er kann denken. Und ich erzähle ihm, was so alles los ist, also entgeht ihm nichts.«
»Was hat er denn für Interessen?« forschte Stockstill nach. Die Untersuchung war abgeschlossen; mehr konnte er mit den wenigen Instrumenten und Tests, die er anzuwenden vermochte, nicht tun. Er hatte sich von der Richtigkeit der Darstellung überzeugt, die das Kind gab, und das war immerhin etwas, doch konnte er das Embryo nicht sehen und ebensowenig in Erwägung ziehen, ihn zu entfernen; letzteres stand vollkommen außer Frage, wie wünschenswert es auch sein mochte.
Edie überlegte. »Na«, sagte sie, »am liebsten läßt er sich ... äh ... was über Essen erzählen.«
»Essen!« wiederholte Stockstill in äußerster Faszination.
»Ja. Wissen Sie, er selbst ißt ja nichts. Er läßt sich gern immer wieder erzählen, was ich zu essen bekommen habe, denn nach einer Weile kriegt er ja auch was davon ab ... Glaube ich jedenfalls. Muß doch so sein, sonst könnte er gar nicht leben, oder?«
»Ja, richtig«, pflichtete Stockstill ihr bei.
»Er bekommt's also von mir«, bekräftigte Edie, während sie ihre Bluse anzog und sie langsam zuknöpfte. »Und er will wissen, was drin ist. Er hat's besonders gerne, wenn Äpfel oder Apfelsinen dabei sind. Und ... er hört gerne Geschichten. Er möchte immer was von anderen Gegenden hören. Vor allem solchen, die weit weg sind, zum Beispiel New York. Meine Mutter erzählt mir manchmal was von New York, und ich erzähl's ihm weiter. Er möchte eines Tages mal hin und sich anschauen, wie's dort aussieht.«
»Aber er kann doch nichts sehen.«
»Ich kann's aber«, betonte Edie. »Das ist fast genauso gut.«
»Du sorgst gut für ihn, was?« meinte Stockstill mit tiefer Rührung. Für das Mädchen war das alles völlig normal; es hatte sein ganzes bisheriges Leben hindurch so gelebt – von einem andersartigen Dasein wußte sie nichts. Es gibt nichts, begriff er wieder einmal, das ›außerhalb‹ der Natur stünde. So was ist eine logische Unmöglichkeit. In gewisser Hinsicht gibt es keine Mißbildungen, keine
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