Kinder des Holocaust
Anomalien, es sei denn in statistischem Sinne. Die Situation ist ungewöhnlich, aber nichts, was uns Entsetzen einflößen müßte. Vielmehr sollten wir uns darüber freuen. Das Leben als solches ist gut, und dies ist lediglich eine der zahllosen Formen, die es annimmt. Es liegt hier keine besondere Art von Quälerei vor, keine Grausamkeit, kein Leid. Vielmehr Fürsorge und Zärtlichkeit.
»Ich mache mir Sorgen«, sagte das Mädchen plötzlich, »daß er einmal sterben könnte.«
»Ich glaube nicht, daß es dazu kommt«, sagte Stockstill. »Viel wahrscheinlicher ist, daß er größer wird. Und dann könnte die Sache problematisch werden. Es könnte für dich sehr schwierig werden, ihn in deinem Körper zu behalten.«
»Was würde denn passieren?« Edie betrachtete ihn aus großen dunklen Augen. »Würde er dann geboren?
»Nein«, sagte Stockstill. »Er sitzt nicht an der richtigen Stelle. Er müßte durch eine Operation entfernt werden. Aber dann ... wäre er nicht zum Weiterleben imstande. Die einzige Möglichkeit zu leben ist für ihn die, wie er jetzt lebt, nämlich in dir.« Als Parasit, dachte er, sprach diese Feststellung jedoch nicht aus. »Aber damit werden wir uns beschäftigen, wenn die Zeit da ist«, ergänzte er und tätschelte das Mädchen am Kopf. »Falls es soweit kommt.«
»Meine Mamma und mein Vater wissen nicht Bescheid«, sagte Edie.
»Das ist mir klar«, sagte Stockstill.
»Ich habe ihnen öfters von ihm erzählt«, sagte Edie, »aber ...« sie lachte.
»Mach dir keine Gedanken. Verhalte dich ganz einfach so wie immer. Es regelt sich alles von selber.«
»Ich bin froh, daß ich einen Bruder habe«, sagte Edie. »Dadurch bin ich nie allein. Auch wenn er schläft, kann ich ihn immer spüren, ich weiß immer, daß er da ist. Es ist genauso, als ob ich ein Kind in mir hätte. Ich kann ihn nicht in 'nem Kinderwagen spazierenfahren oder so was, ihn nicht anziehen, aber sich mit ihm zu unterhalten, macht auch schon viel Spaß. Zum Beispiel erzähle ich ihm auch von Mildred.«
»Mildred?!« Stockstill war ratlos.
»Sie wissen doch.« Das Kind belächelte seine Unkenntnis. »Das Mädchen, das immer wieder zu Philipp zurückkehrt. Das sein ganzes Leben kaputtmacht. Wir hören jeden Abend zu. Dem Satelliten«
»Natürlich.« Sie sprach von Dangerfields Lesung des Maugham-Buchs. Wahrhaftig unheimlich, dachte Dr. Stockstill, dieser Parasit, der in Edies Leib wächst, in unveränderlicher Feuchtigkeit und Dunkelheit, ernährt durch ihr Blut, hört sich auf irgendeine unausdenkliche Weise von ihr eine Wiedergabe eines weltberühmten Romans aus zweiter Hand an ... er wird dadurch in unsere Kultur einbezogen. Er führt durchaus eine groteske Art von gesellschaftlichem Dasein. Weiß Gott, was er sich bei der Geschichte denkt. Ob er sich Fantastereien darüber hingibt, über unser Leben? Ob er von uns träumt?
Dr. Stockstill beugte sich vor und gab dem Mädchen einen Kuß auf die Stirn. »So, alles klar«, sagte er und geleitete es zur Tür. »Du kannst jetzt gehen. Ich werde mich mit deinen Eltern ein bißchen unterhalten. Vorn im Wartezimmer liegen ein paar ganz alte Zeitschriften, echte Blättchen aus der Vorkriegszeit. Du darfst sie lesen, wenn du vorsichtig damit umgehst.«
»Und dann können wir nach Hause gehen und zu Abend essen«, sagte Edie freudig und öffnete die Tür zum Wartezimmer. George und Bonny erhoben sich, die Gesichter unverkennbar von Sorge gezeichnet.
»Kommen Sie bitte rein«, sagte Stockstill zu den beiden. Er schloß hinter ihnen die Tür. »Kein Krebs«, sagte er, vornehmlich an Bonny gewandt, die er besser kannte. »Freilich ist's eine Wucherung, daran besteht kein Zweifel. Wie groß sie werden kann, läßt sich jetzt noch nicht absehen. Aber ich würde sagen, es ist kein Anlaß zu Befürchtungen gegeben. Bis die Wucherung groß genug ist, um ernsthafte Beschwerden zu verursachen, sind die Operationstechniken vielleicht wieder soweit fortgeschritten, daß man damit fertig werden kann.« Die Kellers seufzten erleichtert auf; sie waren sichtlich ins Zittern geraten. »Gegebenenfalls kann man mit Edie in die Allgemeine Klinik in San Franzisko gehen, dort werden kleinere chirurgische Eingriffe durchgeführt«, sagte Stockstill. »Aber offen gestanden, an Ihrer Stelle würde ich keinen gesteigerten Wert darauf legen.« Es ist besser, ihr wißt nichts, dachte er. Es fiele euch verdammt schwer, euch damit abzufinden ... Vor allem dir, Bonny. Wegen der Umstände der Empfängnis.
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