Kinder des Holocaust
Es wäre allzu leicht möglich, daß du nachträglich Schuldgefühle entwickelst. »Sie ist ein gesundes Kind und hat Freude am Leben«, fügte er hinzu. »Sehen Sie zu, daß es so bleibt. Sie hat die Geschwulst schon seit ihrer Geburt.«
»Tatsächlich?« fragte Bonny. »Davon habe ich gar nichts bemerkt. Vermutlich bin ich keine gute Mutter. Ich bin so mit meinen Aktivitäten für die Gemeinde beschäftigt, daß ich ...«
»Dr. Stockstill«, unterbrach George Keller sie, »ich möchte folgende Frage stellen. Ist Edie irgendwie ein ... absonderliches Kind?«
»Absonderlich?« Stockstill musterte ihn ausdruckslos.
»Ich glaube, Sie wissen, was ich meine.«
»Sie meinen, ob sie eine Mißgeburt ist?« George erbleichte, aber seine eindringlich-grimmige Miene blieb; er erwartete eine Antwort. Stockstill sah es ihm an; der Mann würde sich nicht mit ein paar Floskeln abspeisen lassen. »Ich nehme an, daß das es ist, was Sie meinen«, sagte Stockstill. »Warum fragen Sie? Kommt sie Ihnen in irgendeiner Hinsicht absonderlich vor? Sieht sie wie eine Mißgeburt aus?«
»Natürlich sieht sie nicht so aus«, sagte Bonny in nervöser Beunruhigung; sie hielt sich krampfhaft am Arm ihres Mannes fest, klammerte sich an ihn. »Herrje, man sieht's doch mit bloßem Auge, daß ihr Aussehen völlig normal ist. Also wirklich, George, was ist bloß in dich gefahren? Wie kannst du derartig abartige Äußerungen über dein eigenes Kind von dir geben? Langweilst du dich, oder wie kommst du auf so unsinnige Ideen?«
»Es gibt Abweichungen, denen man's äußerlich nicht ansieht«, sagte George Keller. »Immerhin bekomme ich ja viele Kinder zu sehen, ich sehe ständig alle hiesigen Kinder. Ich habe so was wie einen Blick dafür entwickelt, Abweichungen zu bemerken. Diese oder jene Anzeichen machen mich darauf aufmerksam, und in den meisten Fällen behalte ich recht. Wir Verantwortlichen an den Schulen sind verpflichtet, das wissen Sie ja, alle Kinder mit irgendwelchen Abweichungen von der Norm dem Bundesland Kalifornien zwecks Sonderunterricht zu überstellen. Deshalb ...«
»Ich gehe heim«, sagte Bonny. Sie drehte sich um und eilte zur Tür des Wartezimmers. »Wiedersehen, Doktor.«
»Warten Sie, Bonny«, rief Stockstill.
»Diese Unterhaltung mißfällt mir«, sagte Bonny. »Das ist krankhaftes Gerede. Sie und mein Mann reden hier abwegiges Zeug. Doktor, falls Sie auf irgendeine Weise andeuten sollten, Edie sei nicht normal, werde ich nie wieder ein Wort mit Ihnen sprechen. Und auch mit dir nicht, George. Das ist mein voller Ernst.«
»Ihre Aufregung ist vollkommen überflüssig, Bonny«, erklärte Stockstill nach kurzem Schweigen. »Ich habe keineswegs die Absicht, mich in irgendwelchen Andeutungen zu ergehen, weil's hier nichts anzudeuten gibt. Edie hat einen gutartigen Tumor im Unterleib, sonst nichts.« Er verspürte Zorn. Er neigte auf einmal sogar dazu, ihr die Wahrheit mitzuteilen und sie vor vollendete Tatsachen zu stellen. Sie hätte es verdient.
Aber wenn sie erst einmal Gewissensbisse empfunden hat, dachte er, wenn sie es sich erst einmal zum Vorwurf erhoben hat, hingegangen und ein Verhältnis mit irgendeinem Mann angefangen und dann ein anomales Kind geboren zu haben, dann wird sie ihre Aufmerksamkeit wieder Edie widmen, sie wird sie zu hassen beginnen. Sie wird alles an dem Kind auslassen. So läuft es immer. Das Kind ist auf unklare Weise ein Vorwurf an seine Eltern, eine schuldhafte Mahnung an das, was sie früher getan haben, oder in den ersten Augenblicken des Krieges, als jeder auf seine Art verrückt geworden ist, irgendein seinem Charakter gemäßes, ganz persönliches Unheil angerichtet hat, als er sah, was auf einmal vorging. Einige von uns haben getötet, um das eigene Leben zu retten, manche sind blindlings geflohen, andere haben sich zu Narren gemacht ... Bonny hat ohne Zweifel durchgedreht. Sie hat sich gehenlassen. Und sie ist heute dieselbe Person wie damals. Sie würde so etwas wieder tun, hat es womöglich längst wieder getan. Und sie ist sich dessen vollauf bewußt.
Erneut fragte er sich, wer wohl der Vater sein konnte.
Eines Tages werde ich sie rundheraus fragen, beschloß er. Vielleicht weiß sie es selbst nicht. Möglicherweise ist jene Zeit des Einschnitts in unser aller Dasein in ihrer Erinnerung nur ein verschwommenes Durcheinander. Jene entsetzlichen Tage. Aber waren sie für sie überhaupt entsetzlich? Vielleicht fand sie es alles richtig herrlich, sie konnte alle Konventionen
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