Kinder des Holocaust
Äußerungen getan hat, dachte unterdessen Eldon Blaine. Wieso kann er jetzt etwas nachäffen, das er gar nicht gehört hat?
Und dann begriff er. Die Lösung lag auf der Hand. Der Phokomelus hatte ein Radio in seinem Haus; ehe er ins Forsthaus kam, hatte er drüben im Haus für sich am Radio gesessen und der Satellitensendung zugehört. Das hieß, es gab in West Marin zwei funktionstüchtige Radios, während in ganz Bolinas kein einziges zur Verfügung stand. Eldon empfand Empörung und Verzweiflung. Wir haben nichts, sagte er sich. Und diese Leute hier haben alles, sogar ein zusätzliches, privates Radio, ausschließlich für eine Person allein.
Das ist ja wie vor dem Krieg, dachte er fassungslos. Hier leben sie genauso gut wie damals. So was ist einfach ungerecht.
Er wandte sich ab und verließ den Saal, eilte hinaus in die abendliche Dunkelheit. Niemand achtete auf ihn; niemand schenkte ihm Aufmerksamkeit. Alle waren viel zu sehr davon beansprucht, Dangerfield und seinen Gesundheitszustand zu erörtern, um auf irgend etwas anderes zu achten.
Drei Gestalten, die eine Kerosinlaterne mittrugen, kamen die Straße entlang auf ihn zu: ein hochgewachsener, magerer Mann, eine junge Frau mit dunkelrotem Haar, zwischen ihnen ein kleines Mädchen.
»Ist die Lesung schon vorbei?« forschte die Frau nach.
»Kommen wir zu spät?«
»Keine Ahnung«, sagte Eldon und stapfte vorüber.
»Oh, wir haben die Lesung versäumt«, jammerte das kleine Mädchen. »Ich hab's euch gleich gesagt, wir hätten uns beeilen sollten!«
»Na, jetzt laß uns auf jeden Fall erst mal reingehen«, sagte der Mann zu dem Mädchen; dann verklangen die Stimmen der drei, während Eldon Blaine in verzweifelter Gemütsverfassung seinen Weg hinaus in die Finsternis fortsetzte, die Geräusche, die Gegenwart der anderen Leute floh, dieser wohlhabenden Einwohner von West Marin, die soviel besaßen.
Hoppy Harrington hob den Blick, nach wie vor ganz in seiner Imitation Dangerfields aufgegangen, und sah das Ehepaar Keller mitsamt der kleinen Tochter hereinkommen und im Hintergrund des Saals Plätze einnehmen. War aber auch Zeit, dachte er, darüber erfreut, daß seine Zuschauerschaft sich vergrößerte. Doch dann empfand er auf einmal Nervosität, weil das Mädchen ihn mit solcher Aufmerksamkeit musterte. Irgend etwas an ihrer Art, ihn anzuschauen, brachte ihn aus der Ruhe; so war es immer mit Edie. Das verdroß ihn, und er hörte mißmutig mit der Vorstellung auf.
»Mach weiter, Hoppy«, rief Cas Stone.
»Ja, los, weiter«, erschollen mehrere andere Stimmen.
»Bring mal das mit dem Cola-Eis«, rief eine Frau. »Sing uns mal das Liedchen, das Cola-Eis-Zwillinge singen, du weißt doch.«
»Auf meinen Cola-Eis-Hammer, den harten, mag ich nicht warten«, sang Hoppy, verstummte aber gleich wieder. »Ich glaube«, sagte er, »für heute reicht's.«
Schweigen entstand.
»Mein Bruder sagt«, meldete sich plötzlich die kleine Tochter der Kellers zu Wort, »daß Mr. Dangerfield hier irgendwo im Saal ist.«
Hoppy lachte. »Stimmt«, sagte er erregt.
»Ist die Lesung aus?« fragte Edie Keller nach.
»O ja, die Lesung ist vorbei«, sagte Earl Colvig, »aber diesmal
haben wir gar nicht zugehört. Wir haben Hoppy zugehört und zugeschaut. Er hat uns heute allerlei lustige Sachen gezeigt, nicht wahr, Hoppy?«
»Zeig der Kleinen mal das mit der Münze«, sagte June Raub. »Das wird ihr sicher gefallen.«
»Ja, laß uns das noch mal sehen«, rief der Apotheker von seinem Platz herüber. »Das war echt gut. Ich glaube, das würden wir bestimmt alle gerne noch einmal sehen.« In seinem Eifer stand er auf, um besser sehen zu können, dachte nicht an die Leute, die hinter ihm saßen.
»Mein Bruder möchte die Lesung hören«, sagte Edie gelassen. »Deshalb ist er hier. Für irgendwelche Spaße mit Münzen interessiert er sich nicht.«
»Sei still«, sagte Bonny zu ihr.
Bruder, dachte Hoppy. Sie hat gar keinen Bruder. Er lachte laut heraus, und mehrere Leute unter den Zuschauern lächelten unwillkürlich. »Dein Bruder?« meinte er, drehte sein Mobil bei und fuhr auf das Kind zu. »Dein Bruder?' 1 Er bremste das Mobil unmittelbar vor Edie, lachte sie offen aus. »Ich kann die Lesung bringen«, sagte er. »Ich kann Philipp sein, ich kann Mildred machen, ich kann jeden darstellen, der in dem Buch vorkommt. Ich kann Dangerfield sein, und manchmal bin ich Dangerfield. Heute abend war ich Dangerfield, das ist der Grund, warum dein Bruder denkt, Dangerfield wäre
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