Kinder des Holocaust
hat gesagt, es geht nicht.« Ihr Bruder tief in ihrem Innern schwieg daraufhin. »Sei deswegen nicht traurig«, sagte Edie. »Ich werde dir immer erzählen, wie die Dinge sind.« Ihr lag daran, ihn zu trösten. »Ich werd's nie wieder so machen wie das eine Mal, als ich dir böse war und dir zu erzählen aufgehört habe, wie's draußen aussieht«, sagte sie. »Das verspreche ich dir.«
»Vielleicht könnte ich Dr. Stockstill dazu bringen, daß er mich rausholt«, meinte Bill.
»Kannst du das? Nein, das kannst du nicht.«
»Wenn ich will, kann ich's.«
»Nein«, widersprach sie. »Du lügst. Du kannst nichts außer schlafen und mit den Toten reden und vielleicht noch solche Imitationen wie vorhin machen. Das ist ziemlich wenig. Das kann ich praktisch auch alles, und dazu noch viel mehr.«Aus ihrem Innern kam keine Antwort. »Bill, weißt du was?« fügte sie hinzu. »Jetzt wissen schon zwei Leute über dich Bescheid. Hoppy Harrington und Dr. Stockstill. Dabei hast du früher immer behauptet, nie würde jemand was von dir erfahren. So schlau bist du gar nicht. Ich glaube nicht, daß du besonders schlau bist.« Anscheinend war Bill eingeschlafen. »Wenn du irgend was anstellst, was böse ist«, sagte Edie, »kann ich was schlucken, das dich vergiftet. Habe ich nicht recht? Also ist es besser, du benimmst dich.«
Sie fürchtete sich immer mehr vor Bill; sie redete eigentlich mit sich selbst, um ihr Selbstvertrauen zu stärken. Vielleicht wäre es ganz gut, wenn du stirbst, dachte sie. Bloß müßte ich dich dann noch immer mit mir herumtragen, und das ... das wäre mir nicht lieb. Das würde mir nicht gefallen.
Erneut schauderte es ihr.
»Mach dir wegen mir keine Gedanken«, sagte Bill unerwartet. Er war wieder aufgewacht, oder womöglich war er gar nicht eingeschlafen gewesen; vielleicht hatte er nur so getan. »Ich kenn mich mit so manchem aus. Ich kann mich selber um mich kümmern. Dich kann ich auch beschützen. Du solltest froh sein, daß du mich hast, weil ich ... Ach, du würdest es doch nicht verstehen. Du weißt ja, ich kann jeden sehen, der tot ist, so wie den Mann, den ich nachgemacht habe. Tja, es gibt eine Riesenmenge von ihnen, Billionen über Billionen, und sie sind alle verschieden. Wenn ich schlafe, kann ich sie raunen hören. Sie sind allesamt noch da.«
»Rings um uns?« wollte Edie wissen.
»Unter uns«, sagte Bill. »Unten in der Erde.«
»Brrr«, machte Edie.
Bill lachte. »Es ist wahr. Und wir werden einmal auch dort sein. Und Mammi und Papi und alle anderen auch. Jeder und alle sind dort, auch die Tiere. Dieser Hund wird bald dort sein, ich meine den, der sprechen kann. Noch ist er nicht weg, aber schon so gut wie dort, es ist schon fast das gleiche. Du wirst sehen.«
»Ich möchte nichts sehen«, sagte Edie. »Ich will die Lesung hören. Sei jetzt endlich still, damit ich zuhören kann. Möchtest du sie denn nicht hören? Du hast immer gesagt, daß du gerne zuhörst.«
»Er wird demnächst auch dort sein«, sagte Bill. »Der Mann, der oben im Satelliten sitzt und vorliest.«
»Nein, das kann ich nicht glauben«, sagte Edie. »Bist du sicher?«
»Ja«, antwortete ihr Bruder. »Sehr sicher. Aber vor ihm ... Weißt du, wer der ›Brillenmann‹ ist? Du weißt es nicht, aber er wird sehr bald dort sein, es dauert nur noch ein paar Minuten. Und später ...« Er verstummte. »Ich werde nichts mehr sagen.« »Ja, gut«, bestärkte Edie ihn. »Sag bitte nichts. Ich will's gar nicht hören.«
Indem er sich an Hoppys Sendemast orientierte, näherte sich Eldon Blaine dem Haus des Phokomelus. Jetzt oder nie, das war ihm klar. Ich habe nur wenig Zeit. Niemand hielt ihn auf; alle befanden sich im Forsthaus, auch der Phokomelus selbst. Ich werde mir sein Radio krallen und damit abhauen, sagte sich Eldon. Wenn ich ihn nicht mitnehmen kann, will ich bei der Rückkehr in Bolinas wenigstens etwas vorweisen können. Der Sender war nicht mehr weit – er konnte die Nähe von Hoppys Bauwerk regelrecht spüren –, da stolperte er unvermutet über irgend etwas. Er stürzte, fiel mit ausgebreiteten Armen der Länge nach auf den Erdboden. Dicht am Untergrund befanden sich die Reste eines Zauns.
Nun sah er auch das Haus selbst beziehungsweise die vom Haus übriggebliebene Ruine. Die Grundmauern und eine Wand standen noch, und in der Mitte war eine aus allem möglichen zusammengezimmerte Behausung, eine aus Trümmern gebaute Hütte, errichtet worden, gegen Regen durch Teerpappe geschützt. Der Mast,
Weitere Kostenlose Bücher