Kinder des Holocaust
als nächsten vorknöpfen werde, und überlegte, ob sie ihrer Mutter davon erzählen solle, oder Mr. Colvig, dem Oberpolizisten.
»Kann ich auch mitspielen?« meldete sich plötzlich Bill wieder.
Edie schaute verstohlen in die Runde und vergewisserte sich, daß die anderen Mädchen ihn nicht gehört hatten. »Darf mein Bruder auch mitspielen?« gab sie die Frage weiter.
»Du hast gar keinen Bruder«, erwiderte Wilma Stone geringschätzig.
»Er ist ausgedacht«, rief Rose Quinn ihr in Erinnerung. »Also darf er mitspielen.« Sie wandte sich an Edie. »Er darf mitspielen.«
»Eins, zwei, drei«, sagten die Mädchen im Chor, und jedes streckte eine Hand aus, zeigte entweder keine, zwei oder alle Finger vor.
»Bill hat Schere«, sagte Edie. »Er schlägt dich ab, Wilma, weil Schere Papier schneidet, und du schlägst ihn ab, Rose, weil Stein Schere bricht, und er ist ja mit mir zusammen.«
»Wie soll ich ihn den abschlagen?« erkundigte sich Rose«.
Edie überlegte. »Poch mal sachte hier hin.« Sie wies auf ihre Seite, auf eine Stelle unmittelbar unterhalb des Gürtels, der ihren Rock hielt. »Nur mit der Seite der Hand, und vorsichtig, er ist nämlich ganz zierlich gebaut.«
Behutsam klopfte Rose an die gezeigte Stelle. »Alles klar«, sagte Bill. »Nächstes Mal krieg ich sie dran.«
Edies Vater, der Schulleiter, näherte sich über den Spielplatz der Schule, und mit ihm kam Mr. Barnes, der neue Lehrer. Die beiden Männer blieben für einen Moment bei den drei Mädchen stehen und lächelten.
»Bill spielt auch mit«, eröffnete Edie ihrem Vater. »Er ist gerade abgeschlagen worden.«
Georg Keller lachte. »Das hat man davon, wenn man bloß eine imaginäre Existenz führt«, sagte er zu Mr. Barnes. »Immer ist man der Sündenbock und bekommt sämtliche Kopfnüsse ab.«
»Und wie will Bill mich abschlagen?« fragte Wilma mit merklicher Neugier. Sie trat beiseite und schaute zu dem Schulleiter und dem neuen Lehrer auf. »Er muß nämlich mich abschlagen«, erklärte sie. »Aber nicht zu fest«, sagte sie in Edies Richtung. »Ist das klar?«
»Er kann nicht fest hauen, nicht mal, wenn er's wollte«, sagte Edie. Ein leichter Ruck durchfuhr Wilma. »Siehst du?« fügte Edie hinzu. »Das ist alles, was er kann, und wenn er sich noch so anstrengt.«
»Er hat mich gar nicht getroffen«, sagte Wilma. »Ich bin bloß ein bißchen erschrocken. Er kann wohl nicht besonders gut zielen.«
»Das kommt daher, daß er nichts sehen kann«, erläuterte Edie. »Vielleicht mach' ich das lieber für ihn, so ist es sicher gerechter.« Sie beugte sich vor und versetzte Wilma einen Klaps aufs Handgelenk. »So, und jetzt nochmals von vorn. Eins, zwei, drei!«
»Warum kann er nichts sehen, Edie?« forschte Mr. Barnes nach.
»Weil er keine Augen hat«, erteilte sie ihm Auskunft.
»Na, das ist doch eine wirklich einleuchtende Antwort«, sagte Mr. Barnes zu ihrem Vater. Beide lachten und schlenderten weiter.
»Wenn du eine Schnecke findest und ich für eine Weile in ihr sein kann«, sagte in Edies Innerem ihr Bruder, »wär's vielleicht möglich, daß ich umherkrieche und etwas sehe. Schnekken können doch sehen, oder? Du hast mir mal erzählt, sie hätten Augen an Stengeln.«
»An Stielen«, berichtigte Edie. »Sie haben Stielaugen.«
»Bitte«, sagte Bill.
Ich weiß, was ich mache, dachte sie. Ich halte einen Wurm an meinen Bauch, und wenn er in den Wurm schlüpft, wird er genauso dran sein wie jetzt. Ein Wurm kann nichts sehen und nichts tun, außer graben. Da wird er vielleicht platt sein!
»Na gut«, sagte sie und sprang von neuem auf. »Ich suche ein Tier, und wir probieren's noch einmal. Aber du mußt warten, bis ich eins gefunden habe. Erst muß ich eins finden, also mußt du Geduld haben.«
»Mensch, vielen Dank«, sagte Bill mit einer Stimme voller Nervosität und sehnsüchtigem Verlangen. »Ich werde dir auch mal 'n großen Gefallen tun. Mein Ehrenwort.«
»Was kannst du denn für mich tun?« hielt Edie ihm entgegen und begann im Gras am Rande des Schulhofs nach einem Wurm zu suchen. Weil in der vorangegangenen Nacht soviel Regen gefallen war, hatte sie heute schon viele gesehen. »Was kann so jemand wie du schon für irgendwen tun?« Sie suchte mit echtem Eifer, zerteilte mit flinken Fingern zügig das Gras.
Ihr Bruder gab keine Antwort. Sie spürte seine stumme Traurigkeit und lachte sich insgeheim ins Fäustchen.
»Hast du was verloren?« ertönte über ihr eine Männerstimme. Sie blinzelte aufwärts; Mr.
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