Kinder des Judas
wieder auf.
Mehr!
Dann, endlich, habe ich den Menschen entdeckt, der diesen lockenden Duft verströmt. Es ist ein junger Mann, das erkenne ich noch, aber im Grunde ist es mir egal. Ich will nur eines von ihm.
»Komm zu mir!« Her mit dem roten Wein der Macht, der Kraft und der Omnipotenz, die aus mir eine Göttin macht! Mein Schlaraffenland! Ich reiße ihn nieder und zerfetze seine Brust, um an das Blut zu gelangen, ich wälze mich auf seinem Körper hin und her.
Hustend gebe ich Blut von mir, ich erbreche einen großenTeil, weil ich mich schlicht überfressen habe. Doch noch immer verlangt es mich nach mehr. Trinken, schlucken, hinein in mich und in meinen Körper. Es wird ewig so weitergehen …
Ich finde mich im Tunnel wieder, das Licht ist rot getönt, weil das Blut die Lampen getroffen hat und durch die Hitze der Birnen zu einem Überzug getrocknet ist. Ich liege halb auf einer Frau, deren Hals ich aufgeschlitzt habe.
Entsetzt stemme ich mich in die Höhe und sehe mich weiter um. Der Boden klebt an meinen Sohlen, der Lebenssaft von drei Dutzend Menschen hat sich verteilt und gerinnt, die Leichen meiner Opfer liegen verstreut umher. Ich habe ihnen keine Gelegenheit gelassen, sich vor mir in Sicherheit zu bringen.
Drei Dutzend …
»Mein Gott!«, ächze ich und stütze mich an der Wand ab. In meinem Magen wogt und schwappt es, warm steigt Flüssigkeit hoch, und ich übergebe mich mehrmals. Mit jedem roten Schwall verlässt mich auch ein Teil der Hybris, in der ich geschwelgt habe.
Menschen haben Drogen, unter deren Einfluss sie Dinge tun, die sie sich später nicht erklären können. Für mich ist diese Droge warmes Blut, und ich war zu lange auf Entzug. Doch nun ist der Rausch vorüber, es kehrt die Ernüchterung ein; wieder übergebe ich mich.
Ich lausche in mich hinein, und es ist noch immer da. Das vom Blut Erweckte ist noch immer da und weigert sich beharrlich, vollständig zu verschwinden, nachdem es aus seinem Schlaf gerissen wurde. Es flüstert mir zu, dass ich keine Reue spüren muss.
Und es hat recht.
Ich weiß, wem ich die Schuld daran geben kann; wer mein Versucher war und die Schlange sandte, die mich meinenruhigen Garten Eden zerstören ließ. Live und in Farbe, vor den Augen von Millionen PC-Benutzern. Unmaskiert.
Ich hebe den Kopf und schaue zu den Kameras an der Tunnelwand. Grünes Lämpchenflackern.
Schlagartig trifft es mich: Ich werde in die Geschichte eingehen, ich werde geisteskranke Fans bekommen, die mich verehren und mir nacheifern, und ich werde eines ganz sicherlich verlieren: mein bisheriges Leben.
»Marek«, sage ich leise und schaue in die Linse. »Ich weiß, dass du einer von denen bist, die da sitzen und mich beobachten«, rufe ich und zeige den Dolch. »Zufrieden mit dem, was du erreicht hast, Bruder?« Meine Stimme kippt, ich schweige ein paar Sekunden. »Du willst mich zerstören, aber ich verspreche dir, dass ich dich zuerst finde und auslösche.« Ich nähere mich der Webcam und wische das halbgeronnene Blut aus den Augen. »Danach gehe ich den Weg, den ich viel früher hätte nehmen sollen: den in den Tod.«
Die Halle ist menschenleer, Handtaschen, Schuhe und andere verlorene Gegenstände liegen in den Sitzbänken und auf dem Boden. Ich renne den Tunnel entlang zu den Umkleiden. Von Tanja entdecke ich keine Spur.
Mein erster Gedanke ist, dass ich sie vielleicht ebenso getötet habe wie die vielen anderen Unschuldigen, doch ich verdränge diese Befürchtung. Sie ist bestimmt vor mir geflüchtet.
Ich weiß nicht, wie lange ich weggetreten war. Es kann sein, dass die weniger perversen Zuschauer die Polizei informiert haben, als sie mein Ausrasten gesehen haben, und dass ein Sondereinsatzkommando auf dem Weg zur Halle ist. Zudem wird es genügend Überlebende gegeben haben.
Ich werfe mir den Mantel über, für eine Dusche ist zu Hause Zeit. Mein Gesicht muss ich waschen, um die angetrockneterote Schicht abzubekommen, und dabei gerät mir etwas fremdes Blut von meinen Lippen in den Mund.
Sofort züngeln die Flammen des Verlangens, und ich weiß, dass ich lange brauchen werde, um zu meiner alten Enthaltsamkeit zurückzukehren. Die dunkle Stunde – meine dunkle Stunde. Man könnte wirklich sagen, dass es Lust ist, unsagbares Begehren nach dieser roten Substanz. Mein linker Zeigefinger fährt über die Unterlippe, um das Blut wegzuwischen, doch meine Zunge schnellt wie von selbst heraus und leckt es weg. Es hat dem jungen Mann mit dem anziehenden Geruch
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