Kinder des Judas
quietschend gleiten die beiden Hälften auseinander.
Ich sehe den leeren Flur, den Eingang. Mir ist nicht einmal bewusst, wer der Böse und wer der Gute im Kampf von Wissen und Gewissen ist.
Wenn sie unter den Bus gerät oder sonst irgendwie zu Tode kommt, kann sie mehr Schaden anrichten als ein Bombenanschlag in einem vollbesetzten Flugzeug
, sagt mein Wissen und hält mir die Eindrücke vor Augen, die aus dem Tunnel stammen, in dem ich gewütet habe.
Ich schließe mich ihm an und versuche, mein Gewissen von der Notwendigkeit der anstehenden Taten zu überzeugen. »Sie müssen sterben, bevor ich Marek aufsuche. Es geht nicht anders.«
Und wenn sie nicht zur Aeterna wird?
, hakt mein Gewissen unerbittlich nach.
Wenn alle drei davon verschont bleiben? Dann hast du sie umsonst ermordet, und wer weiß, was Elena noch alles im Leben hätte erreichen können? Große Wissenschaftler sind in deiner Linie keine Seltenheit, das weißt du. Wenn sie nun ein Mittel gegen Krebs erfinden würde? Oder die beste Kanzlerin abgäbe, die Deutschland je hatte?
Ich hasse mein Gewissen. Die Tür rollt wieder zu, und ich weiß noch immer nicht, was ich tun oder lassen soll. »Ich habe es geschworen«, flüstere ich und starre auf die Armaturen des Bedienfelds.
Nur dir selbst
, meint mein Gewissen etwas abschätzig. Ich schließe die Augen und sehe wieder den Tunnel vor mir, in dem ich mehr als dreißig Unschuldige abgeschlachtet habe. Einfach so, weil ich ihr Blut wollte und weil ich mich für eine Göttin hielt. Das Schlucken fällt mir schwer, die Bilder hören nicht mehr auf und zeigen mir, was aus einer Aeterna werden kann.
Mein Wissen gaukelt mir jetzt zusätzlich noch die Schreie und die Gerüche vor, keuchend stütze ich mich an der Wand der Kabine ab und bilde mir ein, dass sie feucht ist. Feucht, voller Blut, wie die Wand in dem Durchgang zur Umkleide …
»Nein«, stöhne ich und reiße die Lider auf. Die Aufzugtür öffnet sich, und ich trete hinaus. »Das darf nicht geschehen.« Mein Entschluss ist gefasst, für den ich die Verantwortung ebenso tragen werde wie für das Massaker.
Ich schnalle den Koffer auf der Hayabusa fest, so gut es die Maschine zulässt, und schwinge mich auf den Sitz. Der PDA zeigt mir, dass Ulmann und die kleine Familie Karkow in ihren Wohnungen liegen und schlafen. Bessere Gelegenheiten wird es nicht mehr geben.
In mir sträubt sich alles gegen die drei Morde, aber es gehtnicht anders. Die Menschheit darf ihnen nicht überlassen werden.
Ich fege durch Leipzigs beinahe menschenleere Straßen und ziehe die Maschine hoch wie schon lange nicht mehr. Der Drehzahlmesser zeigt mir die höchsten erlaubten Werte, die Stadt fliegt an mir vorüber, die Laternen werden zu langgezogenen, hellen Strichen; es erinnert mich an die Aufnahmen aus der Serie
Raumschiff Enterprise
, wenn ein Warp-Sprung simuliert wird.
Mit höchster Konzentration rase ich durch die Straßenschluchten, meine Gedanken sind nur beim Fahren und lassen mein Gewissen gar nicht mehr zu Wort kommen.
Mein alter Hass auf Marek ist brennender als jemals in den Dekaden zuvor. Und ich wünsche ihm über alle Maßen den Untergang dafür, dass er mich zu diesen Taten zwingt.
Mit wem fange ich an, bevor ich nach Belgrad reise? Dorthin, wo alles begann …
19. September 1677
Osmanisches Tributland
Als Scylla erwachte, spürte sie eine Benommenheit, die über die übliche Schlaftrunkenheit hinausging.
Es gelang ihr nur mit immenser Anstrengung, die Lider zu heben. Die nächste Überraschung war, dass sie nicht an die Holzdielen ihres Mühlenzimmers blickte, in dem sie eingeschlafen war – sondern an die steinerne Decke eines Laboratoriums!
Gleich darauf setzte der Schmerz ein und brachte sie zum Keuchen. Ihr Unterleib schien zu brennen. Ächzend stützte sie sich auf die Ellenbogen und sah an sich hinab.
Sie lag auf einem Seziertisch. Bis zu ihrem Bauchnabel trugsie ihr Nachthemd, der Unterleib war entblößt und die Beine waren auf eine Halterung geschnallt worden, die sie in einer angewinkelten Position hielt.
Scylla ließ sich zurücksinken, die Anspannung der Bauchmuskeln verwandelte die Schmerzen in ihrem Unterleib in grelle Pein.
»Nein«, stöhnte sie, Verzweiflung und Verwirrung fielen über sie her. Ihr Verstand war noch dumpf, wie in Wolken gepackt und betäubt. Stetes Tropfen, das von links an ihr Ohr drang, brachte sie dazu, müde den Kopf zu drehen. Auf dem Seziertisch neben ihr lag –
– Giure!
Er war
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