Kinder des Judas
Liebste?«
Scylla spürte das Brennen im Magen. »Ich weiß es nicht …«
»Scylla, ich ertrage es nicht, ohne dich zu sein«, jammerte er. »Ich springe, wenn du mir nicht versicherst, dass wir uns morgen sehen.«
»Ja, gut. Ich werde da sein«, rief sie und lachte.
»Ich freue mich.«
»Pass beim Hinabsteigen auf.« Scylla wurde von einer Müdigkeit übermannt, die sie in dieser Form nicht erwartet hatte. Offenbar befand sich in der Tinktur, die ihr Karol verabreicht hatte, ein Schlafmittel. Sie wollte noch ein Wort des Abschieds zu ihrem Liebsten sagen, doch schon dämmerte sie ein.
Giure sprang auf den Boden, rieb sich die Hände an der Hose und sah hinauf zum Fenster, wo sich Scyllas Zimmer befand. Seine glühende Leidenschaft blieb heute ungelöscht, doch mit umso größerer Vorfreude wartete er auf den morgigen Tag.
Er wandte sich dem Weg zu, der in den Wald führte. DieRückkehr in sein Dorf fiel ihm jedes Mal schwerer, und auch die Menschen verstand er immer weniger. Die Bücher, die ihm Scylla aus der Bibliothek ihres Vaters anvertraute, verliehen ihm Wissen, mit dem er sogar den Popen überflügeln konnte. Leicht fiel ihm das Lernen nicht, aber es bereitete ihm sehr, sehr viel Spaß.
Giure fühlte sich im Dorf unwohl, weil die Bewohner auch ihn neuerdings mit argwöhnischen Blicken bedachten. Ein Ziegenhirte hatte sich um die Tiere zu kümmern und sonst nichts; seine Schwester Elisabetha hatte er gerade noch daran hindern können, eines der geliehenen Bücher zu verbrennen. Auch wenn Scylla erst im Winter mit ihrem Vater über ihn und die Zukunft sprechen wollte – er selbst hätte die Unterredung gerne vorgezogen.
Ein Schatten huschte über ihn hinweg, und Giure zuckte zusammen. Er war nicht ängstlich; auch an den Fluch, der auf der Mühle lasten sollte, glaubte er nach der Besichtigung nicht mehr. Dennoch brachte ihn etwas zum Frösteln.
Giure schritt durch den Wald und malte sich zur Ablenkung aus, was er und Scylla morgen unternehmen würden. Nach dem Studium. Er sah sie nackt vor sich liegen, wie sie die Arme verlangend nach ihm hob und die Beine öffnete, um ihn in sich zu spüren. Bei diesen Gelegenheiten war er der Lehrer.
Ein harter Schlag traf sein Gesicht, Sterne tanzten vor seinen Augen, und Giure fiel rücklings auf die Erde. Blut schoss aus der Nase, aus den aufgeplatzten Lippen und aus dem Mund. »Was …« Seine Hand tastete nach dem Gürtel, an dem er sein Messer trug.
»Du hast das Mädchen angerührt, Ziegenjunge«, vernahm er ein wütendes Flüstern, als spräche die Dunkelheit zu ihm. Erkennen konnte er niemanden. »Du hast sie verführt und geschwängert! Wie konnte es ein Sterblicher wagen, eine Erhabene anzufassen?«
Ehe Giure etwas erwidern konnte, packten ihn zwei starke Hände am Kragen und rissen ihn empor. Noch immer erkannte er niemanden, doch es war ihm klar, wem er die Behandlung verdankte. »Herr Illicz«, lallte er, weil der Schlag seine Lippen taub und dick werden ließ. »Ich …«
Er wurde davongeschleudert und prallte gegen eine Tanne. Ein abgebrochener Ast bohrte sich in seinen Rücken und riss die Haut auf, Giure schrie vor Schmerz und fiel auf ein Bett aus feuchten Nadeln.
Wieder wurde er angehoben. »Du hast ihr ein Kind gemacht, du Bastard! Damit hast du ihr die Gelegenheit genommen, eine Wissenschaftlerin im Kreis begnadeter Köpfe zu werden.«
»Wir möchten zusammen forschen«, stammelte er verzweifelt. »Bitte, hört mir zu. Eure Tochter hat mich unterrichtet ….«
»Dass ich nicht lache, du Narr!«, erschallte es aus der Schwärze. »Jeder wird sehen, in was
du
sie unterrichtet hast!«
»Ich lüge nicht, Herr!« In seiner Not zitierte er einige Sprüche von Platon, um seine Worte zu beweisen. »Ich möchte ein Gelehrter werden wie Ihr und Scylla. Bitte!« Eine Hand legte sich auf sein Gesicht und drückte ihn nieder, zurück auf die Erde. Todesfurcht wuchs in ihm und legte sich um sein Herz. »Bitte, nein!« Giure spürte eine Zunge, die über sein blutiges Kinn leckte.
»
Du
wirst
nichts
mehr in deinem Leben tun«, knurrte die Stimme, die sich plötzlich ganz nahe vor ihm befand. Sie hatte sich verändert, klang wild und rauh. Hungrig.
20. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 00.09 Uhr
Gegen meinen Willen neige ich mich nach vorne, öffne die Lippen und nehme ihren Zeigefinger in den Mund. Die Zungeumspielt ihn, nimmt das Blut auf. Ich stöhne und schließe die Augen.
»Was tun Sie?«, haucht sie erschrocken,
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