Kinder des Judas
Regal hinter sich, es klirrte warnend. Geistesgegenwärtig wandte sie sich um, hielt das kippelnde Glas fest – und sah in Giures Augen! Der haarlose Kopf trieb in der Lösung, die Schädeldecke war entfernt worden und gab den Blick auf das Gehirn frei.
Scylla warf sich auf den Absätzen herum und flüchtete aus dem Raum, als seien die Geister aus ihren Albträumen hinter ihr her. Nach langer, langer Zeit empfand sie zum ersten Mal wieder Grauen beim Anblick von Präparaten, eisige Schauer liefen über sie.
Aufflammende Schmerzen im Unterleib zwangen sie zum Stehenbleiben. Sie schleppte sich nach einer kurzen Rast in eine der Forschungskammern und setzte sich auf einen Stuhl. Langsam atmete sie ein und aus, zwang den analytischen Teil in sich zum Nachdenken über ihre Lage.
Die Frage nach Giures Schicksal stellte sich nicht mehr. Ihr Vater hatte dem jungen Hirten ein flüssiges Grab beschert: die Rache für sein Vergehen, wie bei dem Janitscharen. Derart zerlegt und nach Spiritus stinkend war es unmöglich, ihn seiner Familie zurückzugeben.
Scylla legte eine Hand auf den Unterleib. Sie hatte nicht einmal etwas von ihrer Schwangerschaft gewusst, geschweige denn Anzeichen einer Abstoßung oder einer drohenden Fehlgeburtbemerkt. Hatte der Schlaftrunk ihres Vaters zum Abort geführt? Er musste sehr stark gewesen sein, denn sie erinnerte sich weder, wie sie in das Laboratorium gelangt war, noch an den Eingriff. Sie entschied, sich Plazenta und Kind genauer anzuschauen, um der Sache auf den Grund zu gehen.
Scylla erhob sich, kehrte in den Raum mit den Präparaten zurück und holte die Gefäße mit ihrem ungeborenen Kind sowie der Nachgeburt.
Als sie auf der Suche nach einem scharfen, sehr dünnen Messer in ein Laboratorium ging, in dem ihr Vater üblicherweise allein arbeitete, entdeckte sie auf dem Tisch zwei kleine Behältnisse mit roter Flüssigkeit, die mit Zetteln versehen waren, auf denen in hastiger Schrift
Lebensblut
und
Kindsblut
zu lesen stand; daneben lagen die winzige, ausgewrungene Nabelschnur, die sich bereits verfärbte, und Blätterberge voller Notizen und Briefe. Ohne es zu wollen, warf sie einen Blick darauf.
Was sie an einer Stelle las, ließ einen schrecklichen Verdacht aufkeimen. Einen Verdacht gegen Karol.
16. November 1677
Osmanisches Tributland
Scylla trug das Kleid, das die Baronin ihr geschenkt hatte, saß in der Küche und trank einen schmerzlindernden Kräutertee, der aus Filipendula und Silberweidenrinde bestand. Er half gegen Fieber und Unwohlsein jeglicher Art, und mit seiner Hilfe war das Brennen in ihrem Unterleib zu einem schwachen Ziehen abgeklungen. Wenn das Wetter – so wie an diesem Tag – umschwang, spürte sie es noch; ansonsten nicht mehr.
Sie vernahm, wie eine Kutsche nach der anderen vor der Scheune vorfuhr. Die Cognatio musste bald komplett versammelt sein.
Sie wusste nicht, was in wenigen Augenblicken geschehen würde. Was ihr Vater sagen würde. Wie die Barone und Baroninnen reagieren und ob es ihr gelingen würde, sie über ihren Zustand hinwegzutäuschen.
Wollte sie überhaupt noch zur Cognatio gehören und in der Mühle bleiben? Nachdenklich schaute sie in die Kräuterbrühe. Die Zweifel an ihrem Vater machten ihr derzeit am meisten zu schaffen. Sie hatte so viel Vertrauen zu ihm, blickte zu ihm auf und sah ihn – trotz aller Reibereien – als Vorbild, gerade was die Forschung anbelangte.
Jetzt bestand der Verdacht, dass
er
ihr das Kind entrissen hatte. Noch dazu lag der von ihr geliebte junge Mann zerstückelt und auf viele Gläser verteilt im Keller. Ihre Trauer darüber war noch lange nicht abgelegt und verlangte nach Vergeltung.
Scylla hatte beschlossen, im Frühjahr unzählige Giftköder zu fertigen und im Wald auszulegen, mit dem sie den Bären zur Strecke bringen wollte, und es kümmerte sie nicht, wie viele unschuldige Tiere dabei sterben würden. Sie wollte das Raubtier, das ihr den Mann geraubt hatte, tot sehen.
Der Durchgang zur Scheune öffnete sich, und Karol sah zu ihr. »Sie sind alle angekommen, Tochter«, sagte er und winkte sie zu sich. »Es geht los.« Er streckte die Hand aus.
Sie trank von ihrem Tee und sah zum Kruzifix, das an der Wand hing.
Herr, was soll ich denn tun?,
dachte sie hilflos.
Kann mein Vater wirklich mein Kind ermordet haben? Würde er in seiner Wut auf mich und Giure so weit gehen?
Scylla ging zu ihm, ergriff die Hand jedoch nicht. Sie lächelte schwach, erwiderte aber nichts, was er mit etwas Befremden zur
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