Kinder des Judas
Kenntnis nahm. Sollte er ihr Schweigen auf die Schmerzen schieben.
»Du musst dich zusammenreißen«, drängte Karol. »Wenn sie erfahren, dass du berührt worden bist, ist alles verloren. Lydia wird uns helfen, und der Allmächtige wird Verständnis haben, wenn wir es mit der Wahrheit nicht allzu genau nehmen. Er wirdauf eine Wissenschaftlerin wie dich nicht verzichten wollen.« Karol wollte ihr einen Kuss auf die Stirn geben, aber sie wich den Lippen aus. »Was hast du?«, fragte er sie mit großen Augen.
»Lass uns nach der Cognatio reden«, bat sie. Bei aller Liebe und Dankbarkeit, die sie ihm gegenüber empfand – sie wollte ihm vor einer Aussprache kein Vertrauen und keine echte Zuneigung mehr schenken.
»Wie du möchtest.« Er wandte sich um und betrat die Scheune, in deren oberstem Stockwerk die Versammlung wartete.
Das Prozedere blieb unverändert. Baroninnen und Barone saßen wieder an ihren Plätzen, hinter ihren Stühlen verharrten die Elevinnen und Eleven. Es roch nach Puder und Parfüm, die den Geruch der brennenden Lampen übertünchten. Scylla lächelte Eleonora zu, die kaum merklich nickte und ihr ein breites Lächeln als Gruß sandte. Auch der Eleve, den Scylla zunächst für einen Upir gehalten hatte, war wieder anwesend. Er betrachtete sie interessiert.
Karol ging nach einer Verbeugung vor dem Ischariot an seinen Platz.
Scylla trat vor den Leiter der Cognatio und ehrte ihn mit einem tiefen Knicks. Auf dem Weg nach oben, mit jeder Stufe, die sie genommen hatte, war ihr Wille stärker und stärker geworden, sich nicht ein weiteres Mal nackt auszuziehen. Sie freute sich, das Metunova ihre Unterstützung angeboten hatte, doch sie wurde nicht benötigt.
Wieder wurden ihr neunzig Fragen bestellt, die sie leidenschaftslos, aber ebenso umfassend wie korrekt beantwortete. Als sie bei einer Nachfrage einem Baron nachwies, dass er von falschen Voraussetzungen ausging, erntete sie verhaltenes Lachen.
Schließlich war dieser Teil der Prüfung vorüber. Der Ischariot wanderte um sie herum, betrachtete sie von allen Seiten undstellte sich vor seinen Stuhl. »Ich denke, dass eine neuerliche Examinatio nicht notwendig ist«, verkündete er. »Es ist nichts zu erkennen, was auf eine gravierende Veränderung schließen lässt.« Er tippte mit dem Zeigefinger auf die Abschriften der Ergebnisse, die Scylla bei ihren neuesten Experimenten gewonnen hatte. »Das ist entscheidend. Ich gehe davon aus, dass alle die Dokumente …«
Carzic erhob sich. »Verzeiht, Ischariot, aber ich denke doch, dass wir uns an die Formalitäten halten sollten«, rief er.
Der Ischariot hob beide Augenbrauen, betrachtete Scylla und schaute wieder zu dem Mann, der die Stimme erhoben hatte. »Wenn
ich
sie aber nicht für notwendig erachte?«
»Sollte das nicht die Cognatio entscheiden?« Carzic musterte Scylla. »Ich jedenfalls bestehe darauf.«
Baronin Lydia Metunova öffnete ihren Fächer und wedelte sich Luft zu. Dann lachte sie schallend. »Baron, kann es sein, dass Ihr, ein geschätzter Wissenschaftler, heute doch ausnahmsweise eher Euren Trieben folgt und das junge Ding entblößt sehen wollt?« Sie klappte den Fächer zusammen und nutzte ihn als Zeigestock. »Wenn Ihr mich fragt, ist sie so unberührt wie bei ihrer letzten Examinatio.« Sie lächelte süffisant. »Natürlich habe ich Verständnis dafür, dass Euch die Brüste einer solch schönen jungen Frau interessieren, doch solltet Ihr diesem Wunsch besser bei Euch zu Hause nachgeben.« Sie erntete zahlreiche Lacher aus der Cognatio.
Carzic verzog den Mund. Zwar erwiderte er etwas, aber seine Worte gingen in der allgemeinen Heiterkeit unter.
Doch nun erhob sich Baron Rubin, ein stattlicher Mann von weit über fünfzig Jahren und vom Perückenscheitel bis zur Sohle ausstaffiert wie ein König. »Ich stimme Baron Carzic zu. Es soll eine neuerliche Examinatio stattfinden.«
»Das möchte ich nicht«, sagte Scylla laut und blickte voller Trotz auf den Baron, der als Letzter gesprochen hatte. »Stimmtüber mich ab, kommt zu einem Urteil, lehnt mich meinetwegen ab, wenn Ihr es für richtig haltet. Doch ich werde kein zweites Mal meine Haut zur Schau stellen. Ich bin kein Leichnam oder Präparat, das Euch, wann immer Ihr es wünscht, zur Verfügung steht!«
Karols Hände krampften sich um die Stuhllehnen, er biss die Zähne so fest zusammen, dass man das Knirschen hören konnte.
Es war totenstill. Die Gesichter der Versammelten wandten sich ihr zu.
»Welch ein
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