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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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fallen oder Sie jemand sieht und die Polizei ruft. Ich würde mich ungern um das Gespräch mit Ihnen bringen.«
    Ich gleite in den Raum und schließe das Fenster, Frau Ulmann zeigt mit dem Stock auf den Sessel neben ihrer Ruhestätte. Auf dem Tischchen daneben stehen ein Glas sowie eine Flasche Rotwein und eine Karaffe Wasser.
    »Bedienen Sie sich und erzählen Sie mir, was Sie von mir wollen, Kind«, bittet sie mich und sieht mich aus nebelgrauen Augen an. Das Gesicht gleicht meinem, und ich bekomme eine ungefähre Vorstellung, wie ich in vielen, vielen Jahren aussehen werde. Die grauen Haare liegen wie silberne Fäden auf dem Kissen, und sie trägt einen Siegelring an ihrem rechten Mittelfinger. Ein bisschen Adel hat sie sich demnach bewahrt. »Ich weiß, dass Sie mich nachts besuchen. Ich schlafe sehr leicht und höre, wenn sich jemand an mein Bett stellt.«
    Ich nicke, sage aber nichts. Die Strumpfmaske schiebe ich nach oben, lege sie aber nicht ganz ab, damit meine Haare darunter bleiben.
    »Sind Sie stumm, Kind?« Sie meint die Frage ernst, das sehe ich. »Zu welcher Abteilung Zeitgenossin gehören Sie: perverse Stalkerin? Fassadenkletterin, die sich nicht entscheiden kann, was sie bei ihren Einbrüchen mitnehmen soll?« Frau Ulmann mustert mich. »Ich könnte Sie auch für meinen Schutzengel halten … oder den Engel des Todes. Alt genug bin ich ja, um ihm begegnen zu dürfen, meinen Sie nicht?«
    Meine Lippen verziehen sich zu einem anerkennenden Grinsen. »Sie sind cool, Frau Ulmann.«
    »Dachten Sie, ich schreie das Haus zusammen, damit Sie meine Haushälterin auch noch … Was eigentlich? Niederschlagen, berauben, was auch immer?«
    Sie langt nach ihrem Glas Wasser und trinkt einen Schluck; ich sehe die Stapel von Tablettenpackungen, zwei der folienabgedichteten Dispenser sind geöffnet und vollständig leer. Hat Frau Ulmann sie heute alle genommen? Ich erschrecke und denke an einen möglichen Selbstmord.
    »Nein, ich habe keine Angst vor Ihnen. Würden Sie mir etwas tun wollen, hätten Sie das bei Ihrem ersten Besuch machen können.« Sie kneift die Augen etwas zusammen. »Vielleicht war das gar nicht Ihr erster Besuch? Der vor etwa einem Jahr?« Sie winkt ab. »Wie auch immer, ich fürchte mich nicht, auch nicht vor dem Tod. Meine Neugier ist größer.« Sie richtet sich auf und schaut mir genau in die Augen. »Was wollen Sie, Kind? Falls Sie nicht sprechen möchten, schreiben Sie es auf.« Sie drückt eine gelbrote Pille aus dem Dispenser und schluckt sie. »Lange können Sie sich aber nicht Zeit lassen.«
    Ich zeige auf die Packung. »Wird das ein Selbstmord, Frau Ulmann?«
    Sie hebt die Augenbrauen und sieht empört aus. »Ich nenne es Freitod. Das tue ich jetzt, bevor ich mich gar nicht mehr bewegen kann und Ärzte mich an Maschinen anschließen, bis ich nach Dekaden des schmerzvollen Wartens endlich eingehe. Nein, lieber ein rasches Ende als …« Sie schnalzt mit der Zunge und spült die Pille nach unten. »Schauen Sie nicht so schockiert! Es ist mein Leben, also kann ich es beenden, wann ich möchte.«
    Noch eine Überraschung. Aber ihr Leben kann hinterher weitergehen, wenn sie und ich Pech haben. »Frau Ulmann, Sie werden sich bei diesem Pillencocktail übergeben müssen …«
    »Kind, ich habe lange im Internet recherchiert, welche Tabletten man in welcher Reihenfolge nehmen muss, um sich umzubringen. Schmerzlos vor allem. Es gibt ungeheuer viele Chat-Foren, wussten Sie das?« Frau Ulmann stellt das Glas ab und tippt auf den Wecker. »Gegen fünf Uhr sollte ich es überstandenhaben, ab vier Uhr werde ich nicht mehr viel mitbekommen. Bis dahin hätte ich gerne den Grund Ihres Hierseins erfahren. Oder ist das zu viel verlangt? Außerdem nehme ich Ihr Geheimnis ja mit ins Grab.«
    So, wie sie es sagt, klingt es unglaublich abgeklärt. Ich wusste, dass sie vom alten Schlag ist, preußische Tugenden und dergleichen, aber sie erinnert mich im Moment alarmierend an einige Mitglieder aus der Cognatio. Ihre Haltung, die Art zu sprechen und diese zunehmende Kälte in den Augen, die Unerschütterlichkeit gegenüber einer Fremden, das Planen des Freitods. Sind das Zeichen, dass sie sich gegen fünf Uhr als Aeterna aus dem Bett erhebt, oder erleide ich gerade einen paranoiden Anfall?
    »Mein Geheimnis, Frau Ulmann«, beginne ich, »ist, dass wir beide verwandt sind. Länger, als Sie es sich ausmalen können.«
    Zu meiner Verwunderung lächelt sie; wieder überrascht sie mich. »Interessant, dass Sie es

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