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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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ansprechen. Ich dachte vorhin, dass Sie mir ein wenig gleichen, Kind.«
    »Eigentlich, Frau Ulmann, müsste ich Sie mit
Kind
anreden«, sage ich langsam. Ich will sie bei ihrem Vornamen nennen, doch es gelingt mir nicht. Ich bin ihr unglaublich nahe und plötzlich sehr froh, dass sie ihren Selbstmord eingeleitet hat. »Ich bin eine Vorfahrin ihrer Mutter, Frau Ulmann.«
    Sie senkt den Kopf und stößt einen Laut aus, der ihren Unglauben deutlich machen soll. »Sie gehören also in die Abteilung wahnsinnige Stalkerin«, meint sie dann überzeugt, und eine weitere Pille verschwindet in ihrem Mund. »Schade. Ich hatte mir mehr erwartet. Etwas Geheimnisvolles.« Sie blickt an den Baldachin ihres Himmelbetts. »Man bekommt als Kind immer Geschichten erzählt, und darin hat der Tod oft menschliche Gestalt. Seltsamerweise dachte ich immer, der Tod sei eine Frau, weil Frauen das Leben schenken. Da wäre es nur gerecht,wenn es auch eine Gevatterin Tod wäre.« Sie deutet auf die Packungen. »Als ich angefangen habe, die Tabletten zu schlucken, habe ich an Sie gedacht und gehofft, dass Sie der Tod sind, Kind. Mein Tod.«
    »Sie haben eine Narbe auf der Innenseite Ihres linken Schenkels, weil sie mit fünf Jahren beim Spielen vom Baum in einen Zaun gefallen sind«, sage ich. »Das Baumhaus stand in der alten Eiche, in Ihrem Garten. Ihr Vater hat es Ihnen bauen lassen, und Sie haben darin mit ihren Freundinnen Evchen und Doro Tee getrunken. Jeden Sonntag.« Mit jedem Satz, den ich ihre Vergangenheit beschreibe, sehe ich das Interesse in ihrem Gesicht zurückkehren. Ich hole andere Begebenheiten aus ihrer Jugend herauf. Es sind Dinge, die man als Außenstehender nicht wissen kann, nicht in meinem Alter. »Sie haben Ihre erste Tochter zur Adoption freigegeben.« Die Krönung habe ich mir bis zum Schluss aufgehoben. »Und wenn es Sie beruhigt: Sie hat wiederum eine liebevolle Tochter und eine süße Enkelin hinterlassen.« Für diese Umschreibung könnte ich mich selbst ohrfeigen. Es wird mir die spätere Arbeit nicht erleichtern.
    Frau Ulmann starrt mich an. »Woher wissen Sie das alles?«, bricht es schließlich aus ihr heraus. »Darunter waren Begebenheiten, an die ich mich selbst bis eben nicht einmal mehr entsinnen konnte, aber Sie haben sie in allen Einzelheiten beschrieben …« Sie stockt und verkrampft sich. Die Wirkung der Tabletten setzt allmählich ein. »Ich dachte, es sollte schmerzfrei sein«, ächzt sie und hält sich die Brust, Schweiß rollt über ihre Stirn.
    Ich lasse ihr die Minuten, um sich zu fangen; derweil überlege ich von neuem, was ich mit ihr anstellen soll. Mitnehmen erscheint mir nach wie vor das Beste.
    »Angenommen, es stimmt, was Sie sagten: Wie kommt es, dass Sie so jung geblieben sind?«, fragt sie mich unvermittelt.»Noch glaube ich Ihnen nicht, aber wenn Sie mir darauf eine Antwort geben können, die mich überzeugt, bin ich zu vielem bereit.«
    Warum soll ich es nicht sagen? Ich lächele und zeige meine Zähne. »Ich bin eine Vampirin.«
    Frau Ulmann lacht unverhohlen. »Das, Kind, war doch ein wenig zu übertrieben.«
    Bevor sie weitersprechen kann, zeige ich ihr für einige Sekunden mein dämonisches Antlitz; die langen, spitzen Fänge erscheinen, und ich lasse das Wesen aufschimmern, das viele hundert Männer, Frauen und Kinder in den Tod gerissen hat. Dann dränge ich das erwachte Dunkle in mir zurück. »Brauchen Sie noch mehr Beweise?«
    Sie schluckt. »Nein«, kommt es nach einer ganzen Weile aus ihrem Mund. »Ich bin also das Kind eines Vampirs … oder geschah Ihre Verwandlung nach meiner Geburt?«
    »Vorher. Lange vorher.« Ich gebe ihr einen kleinen Einblick in mein bewegtes Leben, ohne auf den aktuellen Krieg zwischen Marek und mir einzugehen.
    Frau Ulmann nimmt es mit unglaublicher Fassung. Zu viel Fassung, und mein Misstrauen regt sich wieder. Sie weiß nun, dass sie als Verfluchte, als Untote zurückkehren wird, und wie es aussieht, macht es ihr nichts aus.
Das
gefällt mir gar nicht.
    Ihre nebelgrauen Augen richten sich auf das Fenster. »Ich weiß, dass ich anders bin als andere, ich habe es immer gespürt«, raunt sie selbstgefällig. »Ich schob es immer darauf, dass ich einen adligen Mann geheiratet habe und gesellschaftlich aufgestiegen bin, doch nun weiß ich dank Ihnen, was der wahre Grund ist.« Sie will noch eine Tablette nehmen, aber sie entgleitet ihren zitternden Fingern, und ich weiß nicht, ob es Nebenwirkungen oder die Aufregung sind. »Ich bin sehr gespannt, wie

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