Kinder des Judas
die Dörfler und der Pope, Blut, ihr Kind auf dem Fußboden …
Sie richtete den Oberkörper auf und sah nach dem Pflock, den man ihr durchs Herz getrieben hatte. Er steckte noch immer in ihr!
Sie zwang sich zur Ruhe und umfasste ihn mit der rechten Hand. Ruckartig zog sie ihn aus sich heraus, dabei entschlüpfte ihr ein gequälter Schrei.
Fassungslos starrte sie das Holz an, dann betrachtete sie die Wunde, aus der ein kleines Rinnsal Blut sickerte. Weil sie es nicht glauben konnte, betastete sie die Ränder und fuhr sogar mit der Fingerkuppe in das Loch. Sie müsste mit einer solchen Verletzung tot sein.
Sie spürte beim Tasten keine Schmerzen. Stattdessen schloss sich die Austrittsstelle des Pflockes von selbst; entsetzt beobachtete Scylla, wie sich blutige Fleischfäden in der Wunde aufeinander zureckten, sich trafen und zu festem Gewebe verschmolzen! Sie woben ein Stück neuen Leibes, und alles, was sie empfand, war Grauen und Angst. Am Ende legte sich eine dünne Kruste darüber, die ein wenig juckte.
»Das …« Sie neigte sich nach vorne und sah, warum sie die Beine nicht bewegen konnte. Ein dicker Dachbalken lag quer darüber. Er hatte die Knochen nicht zerschmettert, aber er hielt sie gefangen.
Ohne, dass sie lange darüber nachdachte, fuhr sie mit beiden Händen darunter und spannte die Muskeln an. Was ein ausgewachsener Mann nicht geschafft hätte, gelang ihr beinahe mühelos.
Befreit von dem Ballast erhob sie sich unsicher und stand schwankend in den Trümmern und der Asche dessen, was einst ihr Zuhause gewesen war. Die Erinnerung daran verblasste mehr und mehr, je öfter sie zum leuchtenden Mond blickte. Er schien ihr die Gedanken zu rauben.
Nicht einmal mehr ihr eigener Name fiel ihr ein.
Ein sanfter Wind kam auf und spielte mit ihren Haaren. Sie runzelte die Stirn, nahm eine Strähne zwischen die Finger und betrachtete sie nachdenklich. Waren sie schon immer rot gewesen?
Die Brise trug ihr einen verführerischen Duft zu: Nicht weit von der Stelle, an der sie sich befand, ragte ein Arm aus den Ruinen.
Sie stolperte, immer noch benommen, über die Ziegel und Balken hinweg, fiel mehrmals, bis sie endlich dort angelangt war. Neben dem Arm ging sie in die Hocke und legte den Körper, der dazugehörte, frei.
Sie fand eine Tote, die ihr bekannt vorkam. Aus der Wunde in der Schulter rann Blut, und sie verspürte bei dem Anblick einen immensen Durst.
Es gab kein Nachdenken, als sie den Mund weit öffnete und die Zähne in den Hals der Leiche schlug, um den Lebenssaft herauszusaugen. Sie wusste, dass richtig war, was sie tat.
Süß, metallisch und warm rann er über die Zunge, tränkte den Gaumen und lief den Hals hinab. Sie trank und trank, bis die Tote nichts mehr hergab. Der Durst schwand etwas, aber um ihn richtig zu stillen, benötigte sie mehr.
Sie hob den Blick und richtete ihn auf den Weg, der in den Wald hineinführte.
20. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig-Leutzsch, 02.54 Uhr
Ich steuere die Hayabusa dorthin, wo die Mitglieder der Cognatio sich auf der Stelle ein Haus gekauft hätten, wenn das hier ihr Territorium gewesen wäre: das Leutzscher Villenviertel.
Mit zweihundert Stundenkilometern geht es durch den tiefschlafenden Stadtteil, wo einst berühmte Künstler jeder Sorte gelebt haben, Maler, Dirigenten, Musiker und Schriftsteller. Der westliche Teil des Leipziger Auenwaldes ist nur einige hundert Meter entfernt, und man lebt hier inmitten alter Bäume und wunderschöner Gärten. So auch Frau Ulmann. Eigentlich heißt sie
von
Ulmann, ihre Vornamen lauten Viktoria Susanna Louisa Sarah. Sie hat sich dazu entschlossen, es bei Sarah Ulmann zu belassen.
Das Leutzscher Villenviertel kann man als gehobene Wohnlage bezeichnen. Ich erinnere mich, wie die Bauten vor meinen Augen entstanden. Vom späten 19. Jahrhundert bis in die dreißiger Jahre des vergangenen Jahrhunderts wurden hier Herrschaftshäuser und großzügige Gebäude errichtet. Die mitunter weiträumigen, parkähnlichen Gärten habe ich damals schon bewundert. Die Bauherren aus den privilegierten Bevölkerungsschichten Leipzigs ließen in den Bauten ihre gesellschaftliche Stellung verewigen. Ich gehörte damals nicht zu ihnen; mir war auch nie nach Protzen.
Ich habe verfolgt, wie eine Vielzahl der Villen in den letzten Jahren saniert wurden. Die gute Infrastruktur und Citynähe lassen das Viertel weiter in seiner Beliebtheit steigen, die neuen Reichen mischen sich unter die alten Bonzen. Diese Vermengung mag
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