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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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Frau Ulmann nicht, sie wäre gerne allein mit den alten Freunden und den Erinnerungen geblieben, ohne die Nähe zu Neureichen mit verzogenen Gören ertragen zu müssen. Sozialapartheid.
    Ich drossele die Geschwindigkeit, da ich mich meinem Ziel nähere: das Anwesen Ulmann. Ich lenke mein Motorrad vor eine Auffahrt und stelle es im Schatten ab, damit es nicht sofort auffällt. Über meinen Kopf habe ich die Nylonstrumpfmaske gezogen; die Kameras sollen mein Gesicht nicht sehen.
    Behutsam gehe ich auf den weißen Holzzaun zu, springe darüber und auf den Weg, der sich durch den langgestrecktenGarten und vorbei an der zweistufigen Veranda bis zur Eingangstür schlängelt.
    Frau Ulmann ist eine nette alte Dame, und sie zu töten fällt mir nicht leicht. Nur weil sie die Welt mit einem gewissen Dünkel betrachtet, den sie aus den Jahren zurückbehalten hat, als sie adlig war, bedeutet es nicht, dass sie sich ihrer sozialen Verantwortung entzieht. Sie spendet anonym hohe Summen für die Leipziger Obdachlosen und unterstützt eine Kindertagesstätte.
    Ich bleibe auf dem Weg stehen und betrachte die Front der Villa, die um 1900 erbaut worden ist, von Frau Ulmanns Vater. Er hat seiner Tochter alles gegeben, konnte ihr die Mutter jedoch niemals ersetzen. Vielleicht war die Angst davor, eine schlechte Mutter zu sein, der Grund, weswegen sie später ihr erstes Kind zur Adoption weggegeben hat.
    Ich richte meine Augen auf die Fenster im ersten Stock. Dahinter liegt sie in ihrem alten Himmelbett, die Laken und Decken sind mit Spitzenklöppeleien versehen und uralt. Frau Ulmann hat sie von ihren Verwandten aus Ostpreußen geschenkt bekommen und würde sie niemals hergeben, selbst wenn sie voller Löcher und Flecken wären.
    Frau Ulmann ist Diabetikerin und hat zwei Zehen am linken Fuß an die Zuckerkrankheit verloren, doch sie nimmt es sehr tapfer. Schlimmer ist die Osteoporose, welche sie die meiste Zeit des Tages ans Bett fesselt, was für die bis vor einem Jahr sehr rüstige und agile Dame nicht leicht ist.
    Meine Augen schweifen über die Fassade zu dem Fenster, hinter dem die Haushälterin ruht: Gabriele Schonsdorf, zweiunddreißig Jahre, verheiratet, ihr Mann lebt in Leipzig. Wenn ich meine Pflicht tue, wird sie nichts hören, das weiß ich.
    Während ich mich an der Fassade nach oben ziehe und wie ein Freeclimber hinaufsteige, mache ich mir Gedanken darüber, wie ich Frau Ulmann schnell und schmerzlos umbringe. Ichmöchte den Zeitungen nicht noch eine Schlagzeile über einen bestialischen Mord liefern, aber der Kopf muss leider abgetrennt werden. Natürlich könnte ich ihr auch das Herz herausschneiden und es verbrennen, aber der Akt ist mindestens ebenso barbarisch.
    Vielleicht sollte ich sie mitnehmen und ihre Leiche nach der üblichen Behandlung in den Auen vergraben. Lieber einen ungelösten Entführungsfall, am besten mit Lösegeldforderung, als noch einen Mord in den Medien. Oder man verbucht es unter »Unfall bei einem abendlichen Spaziergang« – doch wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass Frau Ulmann mit ihren Gebrechen einen Spaziergang ohne ihre Haushälterin unternimmt?
    Inzwischen stehe ich auf dem handbreiten Sims, und es bereitet mir keine Schwierigkeiten, das Gleichgewicht zu halten. Da es ja ein Entführungsfall sein soll – dazu habe ich mich inzwischen durchgerungen –, kann ich das Fenster einschlagen … aber der Lärm schreckt mich ab.
    In dem Moment wird der Vorhang zur Seite gezogen.
    Ich schaue in das betagte Antlitz von Frau Ulmann. Sie sieht mich ohne Angst an, die rechte Hand hält einen Stock, die linke betätigt den Fenstergriff und öffnet mir. Sie scheint auf mich gewartet zu haben, und ich bin über alle Maßen erstaunt. Das kommt jetzt völlig überraschend.
    »Kommen Sie rein, Kind. Und ziehen Sie diese Haube ab. Ich kenne Ihr Gesicht«, sagt sie und klingt nicht danach, als würde sie eine Ablehnung akzeptieren. »Sie waren schon lange nicht mehr bei mir. Ich habe mir schon Sorgen gemacht, dass Sie mich vergessen würden.«
    Mir erschließt sich nicht, was sie bezweckt. Dass es nicht normal ist, morgens gegen drei Uhr auf den Simsen von fremden Villen zu sitzen, dürfte auch ihr klar sein. Sie hat mich offenkundig bei meinen früheren Besuchen bemerkt, und sie scheint mich für etwas zu halten, was sie nicht zu fürchten braucht.
    Frau Ulmann wendet sich um und kehrt zum Bett zurück, auf das sie sich ächzend sinken lässt, und deckt sich zu. »Machen Sie schon, Kind, bevor Sie

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