Kinder des Judas
gehe und vorher ein paar Kleider sowie Schuhe mitnehme. Damit es wenigstens den Anschein hat, als wäre sie freiwillig gegangen.
Da höre ich Schritte, die sich der Tür nähern. Ich habe mich wohl in meiner Einschätzung von Frau Schonsdorf geirrt.
Ich lege Sarah zurück ins Bett und drehe sie leicht nach rechts mit dem Gesicht zum Fenster. Damit der Messergriff nicht unter der Decke emporragt, werfe ich das Laken über sie und husche hinter die Tür.
Die Haushälterin kommt hereingeschlichen und sieht nach Sarah, zieht die Decke etwas in die Höhe. Dabei bemerkt sie die Pillenpackungen und erschrickt sichtlich. »Frau Ulmann?« Sie rüttelt die alte Dame behutsam an der Schulter. »Frau Ulmann?« Sie fühlt nach dem Puls und findet verständlicherweise nichts. »Mein Gott«, haucht sie und nimmt das Telefon vom Nachttisch.
Jetzt habe ich ein Problem.
Bevor Frau Schonsdorf 1-1-0 tippen kann, springe ich sievon hinten an und schlage ihr das Telefon aus den Fingern, es fällt auf die Decke.
Ich schwöre, dass ich sie niederschlagen wollte, um Zeit zu gewinnen und nachdenken zu können, doch ich tue mehr als das.
Ohne es zu beabsichtigen, öffne ich den Mund und merke, wie sich mein Unterkiefer aushakt, während die langen Fänge herausschnellen und sich die Zähne in Messerreihen verwandeln. Ich packe sie an den Schultern und reiße sie an mich, meine Lippen treffen ihre Haut, und ich inhaliere den Nachtgeruch, den sie an sich trägt. Im nächsten Moment beiße ich zu und raube ihr den Schrei aus der Kehle. Ihr warmes, süßes Blut quillt in meinen Mund.
Mehr! Ich will mehr und sauge, während sie schlaff in meinem Griff hängt und sich nicht wehrt. Sie verliert innerhalb von Sekunden all ihr Blut, diesen Schock verkraften Körper und Verstand nicht.
Erst als nichts mehr aus der Wunde kommt, lasse ich sie los. Dumpf schlägt sie auf dem Teppichboden auf, ihr verzerrtes Gesicht ist eine Maske des Entsetzens. Ich wische mir mit dem Handrücken das Rot aus den Mundwinkeln, knackend rückt mein Unterkiefer an seinen angestammten Platz.
Dieses Mal muss ich mich nicht übergeben. Es waren geschätzte sechs Liter, eine gute Portion; gleichzeitig bedauere ich das, was ich getan habe. Seltsamerweise schäme ich mich nicht, ich bedauere lediglich den Tod der unschuldigen Frau. Vor zwei Tagen wäre mir das nicht passiert, ich hätte nicht einmal das Verlangen gehabt, in ihren Hals zu beißen. Marek trägt die Schuld an ihrem Ableben, Marek und seine Intrige. Er brachte mir die Gier der dunklen Stunden zurück.
Ich gebe mir Mühe, den kleinen Rausch, den mir das Blut beschert hat, nicht zu sehr zu genießen, und konzentriere mich mehr auf das Bedauern. Beim ersten Mal, im Tunnel, fühltees sich an wie eine grenzenlose Euphorie, dieses Mal ist es eher vergleichbar mit einem kurzen Schwips, der bereits wieder abklingt und Sehnsucht nach dem ganz großen Trip weckt. Das ist nicht gut. Verdammt, Marek.
Frau Schonsdorf wird mit in das Familiengrab der von Ulmanns wandern. Mein Zeitplan gerät gehörig durcheinander, aber es geht nicht anders. Ich male mir aus, was geschieht: Die Polizei wird keine Spuren eines Kampfes oder gewaltsamen Eindringens finden und von einem Ausflug ausgehen, von dem die Frauen nicht mehr zurückgekehrt sind. Man wird die Auen durchsuchen und niemanden finden. Das Ende zweier Leben.
Seufzend erhebe ich mich und suche eine Plastiktüte, in die ich die Kleidung packen kann. Meine Pflicht ist noch nicht getan. Zwei weitere unschuldige Leben muss ich in dieser Nacht noch nehmen, danach ist Schluss.
Schluss mit den Unbeteiligten.
20. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 18.09 Uhr
Ich hatte es – Dank sei Gott dem Herrn und seinen Heiligen – damals weit gebracht, ein Vermögen erwirtschaftet und einige Erfolge in der Forschung erzielt, die mir in der Cognatio viele Neider brachten. Einige davon konnte man beinahe als Todfeinde bezeichnen, die sich am liebsten auf mich gestürzt und mir den Judaskuss auf die Wange gedrückt hätten. Aber sie wagten es nicht …
Doch der Reihe nach.
Noch nie in den letzten dreihundertdreißig Jahren habe ich etwas über mein privates Leben aufgezeichnet, weder meine Gedanken noch die Geschehnisse. Jetzt ist es mir ein dringendesBedürfnis. Ist es eine Beichte? Eine Bitte um Vergebung? Will ich meine Seele mit Tinte reinwaschen?
Ich greife ich nach meinem Füllfederhalter und schreibe weiter.
Dieser Teil meiner Geschichte soll mit jener
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