Kinder des Judas
Frauen und Kinder ihr Leben lassen. Dann bleibt es wieder lange Zeit ruhig.« Libor maß die Bisswunde mit der Hand. »Ich denke, dass sie ihre Kiefer aushängen können wie Schlangen. Anders kann ich es mir nicht erklären.«
Viktor bemerkte, dass er allmählich abhärtete. Sicher fand er den Anblick grausam, aber von Ohnmacht oder dem Drang, sich zu übergeben, konnte keine Rede sein. »Die Kinder des Judas. Haben sie sich den Namen selbst gegeben?«
»Ich vermute es. Sie kennzeichnen ihre Opfer immer mit den drei X, der lateinischen Zahl dreißig. Es soll an die Silbermünzen erinnern, die Judas als Lohn für seinen Verrat bekam. Keiner weiß, warum sie sich derart benehmen.« Er senkte die Stimme. »Wenn Sie mich fragen, tun sie das, um die Menschen in Angst und Schrecken zu halten.«
»Hast du schon einmal einen von ihnen getötet?«
»Ein Judaskind?« Libor vollführte rasche Gesten. »Die große Mutter möge mich davor bewahren, jemals einem von denen gegenüberzustehen. Ihre Kräfte sind legendär, und ich hörte, dass man viele Menschen braucht, um sie auch nur zurückdrängen zu können.«
Einer der Zingaros sagte etwas.
Libor nickte. »Er hat mich eben daran erinnert, dass vor einigen Jahren in der Nähe ein Judaskind in einer alten Mühle gelebt haben soll. Er und seine Tochter fingen die Menschender Umgebung und zerschnitten sie bei lebendigem Leib, folterten sie und taten ihnen in den Gewölben der Mühle die furchtbarsten Dinge an. Es gab eine riesige Bibliothek sowie Räume voller abgeschnittener Gliedmaßen, die in Spiritus eingelegt waren. Freiwillige aus fünf Dörfern waren notwendig, um den Vampir und seine Tochter zu vernichten und die Mühle in Brand zu setzen.«
»Unfassbar!« Viktor hatte seine Schreibutensilien ergriffen und notierte in Stichworten, was er hörte. Es klang für ihn grotesk. Präparate, eine Bibliothek – das Verhalten der Untoten erinnerte ihn an die Universitas! Die Vampire hatten sich anscheinend wie Gelehrte verhalten und die Lebenden studiert wie Objekte.
Er sah zu, wie sie das Bündel umdrehten. Es war eine Kinderleiche, ein kleines Mädchen von einem halben Jahr, bis zu der Hüfte entblößt. Jetzt wurde ihm doch übel: Die Zähne des Wesens hatten in der zarten, schmächtigen Brust ein faustgroßes Loch hinterlassen. Das Herz fehlte, und auch hier war nichts von Blut zu sehen. Die Kinder des Judas vergeudeten keinen Tropfen; auch das Mädchen trug die drei X auf der Stirn.
Viktor wandte die Augen ab, hielt eine Hand vor den Mund – und entdeckte etwas in der Hand der jungen Frau. Er beugte sich nach vorne und hob einen dünnen roten Faden hoch, der sich bei näherer Betrachtung als ein Haar erwies. Die Tote hatte schwarze Haare, das Kind kurzen braunen Flaum. »Ein Vampir mit roten Haaren, Libor?«
»Alle Kinder des Judas haben rote Haare, sagt man. Es geschieht ganz selten, dass sie über Menschen oder Vieh herfallen, doch dann, Niemez, sind es Massaker, die sie anrichten. Sie belassen es nicht bei
einem
Opfer, wenn sie weitere zu fassen bekommen können. Das geschieht alle paar Jahre einmal, eine Art Ritual. Und das nicht nur hier, sondern überall in der Gegend.«
»Dann denke ich, dass die arme Frau das erste von vielen war«, bemerkte er aufgeregt. »Gibt es ein Dorf in der Nähe?«
Libor rief etwas, und die Wagenlenker begaben sich zurück auf die Kutschböcke. »Wir ziehen weiter.«
Viktor wunderte sich. »Es ist doch Tag …«
»
Glücklicherweise
ist es Tag.« Er zog seinen Säbel und schlug zuerst der Frau, dann ihrer Tochter den Kopf ab. Weil keine Zeit blieb, die Schädel zu verbrennen, nahm er die Köpfe an den Haaren und trug sie mit sich, was Viktor mit Grausen beobachtete. »Sie kommen zu der Kleinen in den Sarg. Es wird ihr nichts ausmachen, wenn wir die Schädel dazulegen und sie an einer Kreuzung vergraben«, erläuterte Libor.
Viktor sagte nichts. Er hatte schon längst begriffen, dass auf dem Balkan andere Regeln im Umgang mit den Toten galten als im Westen. Gemeinsam saßen sie auf, und die Reise wurde fortgesetzt.
»Diese Mühle«, hakte Viktor nach und las sich die hastigen Zeilen durch, die er aufgeschrieben hatte, »wo war sie? Und was ist mit ihr danach geschehen?«
»Wo genau sie steht, weiß ich nicht. Angeblich wurde sie abermals aufgebaut und dient nun dazu, das Korn der umliegenden Dörfer zu mahlen.« Libor stieß einen Pfiff aus und trieb die Pferde an, damit sie schneller liefen. Die Geschwindigkeit ihrer Fahrt
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