Kinder des Judas
Die Zingaros hatten eine Wache aufgestellt.
Sie legte den Dolch ab, nahm ihre durchscheinende Gestalt an und ließ sich vom Wind auf die Wagen zutragen. Es beanspruchte sie, sich ständig zu verwandeln, und zehrte an den Kräften, die wiederum nach Blut verlangten, um sich zu regenerieren.Vielleicht fand sich im Wald ein Hirsch oder ein schlafender Bär in seiner Höhle. Viel Lebenssaft.
Da sie in dieser Form keine Witterung besaß, bemerkte sie der Hund nicht. Als sie das Dach des Wagens erreicht hatte, in dem sie Viktor spürte, verwandelte sie sich zurück in einen Menschen; die Böe trug ihren Geruch weg von der empfindlichen Hundenase.
Dass ihr rechter Fuß auf einem Kreuz stand, das aus Hostien gelegt worden war, störte sie nicht weiter, aber einen anderen Vampir hätten der Anblick und die Berührung bereits dazu veranlasst, schreiend das Weite zu suchen. Behutsam und lautlos ging sie über das Dach und kletterte auf die kleine Plattform am Ende des Wagens.
Die Scheibe in der Tür war eingedrückt, und neben dem Eingang lagen vier Kreuze. Die Reste der Lederriemchen, mit denen sie an das kleine Vordach gebunden gewesen waren, hingen durchtrennt herab. Scyllas Muskeln spannten sich an. Waren Marek und seine Verbündeten schneller als sie gewesen?
Sie kletterte durch die winzige Öffnung, was ihr dank ihrer akrobatischen Beweglichkeit keine Mühe bereitete, und stand in der Kammer, in der ein einziger Mensch in der Ecke des Raumes in einem Bett schlief. Er war umringt von religiösen Symbolen, Kreuze und Gewürzsäckchen baumelten von der niedrigen Decke, und es roch durchdringend nach Rosenwasser. Die Zingaros hatten etliche Hürden für einfache Vampire errichtet, an denen jemand wie Scylla sich jedoch nicht störte.
Eine andere dagegen hatte sehr wohl damit zu kämpfen.
Mit dem Rücken zu ihr stand eine unbekleidete Frau, die einen langen Stock in der Hand hielt, an dessen Ende ein Messer festgebunden war. Damit zerschnitt sie die Kordeln der Kreuze und anderen Abwehrmittel, um sich einen Weg zu dem Deutschen zu bahnen. Ein langwieriges Unterfangen.
Scylla sah die anziehende Makellosigkeit ihres Körpers, bewunderte das Spiel der Muskeln unter der Haut. Geschickt achtete die Unbekannte darauf, keine lauten Geräusche zu verursachen, die den Schläfer weckten, und als sie ihr Gesicht zur Seite wandte, um nach einem weiteren Kreuz zu angeln, erkannte Scylla, wie übernatürlich schön diese Frau von höchstens zwanzig Jahren war. Sie wusste, was sie vor sich hatte.
»Du hast hier nichts verloren, Tenjac«, flüsterte Scylla bedrohlich.
Die andere wandte sich um, die Messerspitze zielte auf Scyllas Hals. »Ich habe ihn zuerst entdeckt«, erwiderte sie streitlustig. Sie hatte sofort erkannt, wem sie gegenüberstand – oder zumindest, dass es kein Mensch war. »Ich verfolge ihn seit Belgrad, also lass ihn mir.« Sie verengte die Augen. »Du bist …?« Sie stockte und besah sich die ebenfalls nackte Scylla. »Was bist du? Vieszcy?«
»Stärker und mächtiger als du, Tenjac.« Sie griff blitzschnell nach dem Messer und zerbrach die Klinge zwischen ihren Fingern. »Es wäre mir ein Leichtes, dich aufzuschlitzen und dich dem Hund vor dem Wagen als Fraß zu überlassen.«
Die Tenjac lächelte herablassend. »Du machst mir mit deinen …« In ihren Augen spiegelte sich die Erkenntnis. Die roten Haare! Die Heiterkeit war wie weggewischt. In dem hübschen Antlitz stand nun Furcht.
Scylla nahm es mit Befriedigung zur Kenntnis. »Wie ist dein Name, Tenjac?«
»Irina«, raunte sie hastig und sah sich um. Es gab für sie nur einen einzigen Ausweg, und der führte an der gefährlichen Vampirin vorbei. »Bitte, ich wusste nicht, dass eine Judastochter Anspruch auf ihn erhebt. Lass mich gehen.«
Sie näherte sich der Tenjac und hob die Hand mit dem abgebrochenen Messer. Sanft legte sie die Spitze auf Irinas Brustbein und drückte leicht, die andere Hand berührte die rechteBrust. Sie fühlte sich fest und warm an, genau so, wie es sich ein Liebhaber von einer Frau wünschte.
»Ich erkenne dein Gesicht wieder«, sagte Irina scheu. »Er trägt dich in seinem Verstand …«
»… und du hast dich meines Bildes bedient, um ihn in deinen Bann zu schlagen.« Scylla spürte Ärger in sich aufsteigen, dass ihr eine andere Vampirin bei der Verführung zuvorgekommen war. »Du hast ihn glauben lassen, er würde in seinen Träumen mit mir schlafen.« Die Hand, die eben noch zärtlich die Brüste gestreichelt hatte,
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