Kinder des Judas
christlichen Glauben nicht.«
Jitka hörte diese Auslegung zum ersten Mal und fand siemerkwürdig. »Und wieso hat er sich dann umgebracht, wie der Pope es uns in der Kirche erzählt?«
Ihr Vater blickte ernst. »Die Unwissenden und Verblendeten vergessen nur zu oft, dass es eine andere Stelle in der Bibel gibt, in der er sich nicht erhängt, sondern durch einen Unfall stirbt. Ich persönlich glaube mehr daran. Ihn trifft keine Schuld, er ist ein Werkzeug Gottes, dem wir heute noch dankbar sein sollten.«
»Aber …«
Doch für Karol schien das Thema damit beendet zu sein. Schneller als sie schauen konnte, griff er über den Tisch und stahl ihr das letzte Stückchen Konfekt. »Siehst du jetzt, warum du lernen musst zu kämpfen?«, lachte er und zwinkerte. »Wenn du es gerne wiederhaben möchtest, musst du mich niederringen.«
Ihre Stirn legte sich in Falten, als würde sie ernsthaft darüber nachdenken. Dann stützte sie den Kopf auf die linke Hand. »Ich bin doch zu klein, Vater.«
»Du wirst bald sehen, dass ein Mädchen wie du jeden Gegner mit Geschick und ein paar raffinierten Bewegungen besiegen kann.« Er gab ihr das Konfekt zurück.
Jitka betrachtete es und dachte über die Worte des Vaters nach: Karol würde ihr beibringen, wie man kämpfte. Dann würde sie in der Lage sein, aus eigener Kraft schreckliche Dinge zu verhindern, wie die Verschleppung ihrer Mutter.
Und sie würde Rache nehmen können!
Sie schob ihm den türkischen Honig wieder hin. »Nein, Vater. Ich werde ihn mir eines Tages selbst holen«, versprach sie entschlossen. »Dann weiß ich, dass ich gut genug geworden bin und niemand mir mehr etwas wegnehmen kann. Beginnen wir?«
Er erhob sich und ging zur Treppe. Karol hatte genau gesehen, dass sie furchtbar müde war, doch er wollte sie nichtenttäuschen. Er fand ihren Willen beeindruckend. Seine Tochter öffnete sich ihm allmählich; es würde nicht mehr lange dauern, bis er ihr völliges Vertrauen besaß.
Seine Blicke richteten sich beinahe verräterisch lange auf den Dielenboden der Küche. Darunter wartete das nächste Geheimnis auf sie. »Beginnen wir.«
III.
Kapitel
21. November 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 01.18 Uhr
U nter dem kleinen Vordach vor dem Klinikgebäude steht meine Maschine, eine ältere, schwarzrote Suzuki Hayabusa, die noch ohne Drosselung gebaut wurde und mit ein paar kleinen Veränderungen über dreihundertfünfzig Stundenkilometer kommt, wenn ich es möchte. Die neuen sind kastriert, bei zweihundertneunundneunzig ist dank der Werksregelung Schluss. Hayabusa bedeutet Falke, eine treffende Bezeichnung: Die Maschine verleiht mir Flügel.
Ich fahre prinzipiell ohne Lederkombi und Helm. Mir ist der Wind in meinen langen Haaren wichtiger als mein Leben. Ich kenne den Tod und habe keine Angst vor ihm. Wenn er eines Tages zu mir kommen sollte, retten mich weder Kevlar noch Leder.
Surrend erwacht die Maschine zwischen meinen Beinen, behutsam steuere ich den Falken auf die Straße, und nach ein paar Kilometern ist der Motor warm genug, dass ich ihn hochtreiben kann. Wedeln kann man nicht nur auf einer Skipiste, es funktioniert auch auf der Straße mit einem Motorrad.
Ich ziehe an den wenigen Autos vorbei, die mit fünfzig Sachen dahinkriechen. Einen Porsche-Cayenne-Fahrer mit Münchner Kennzeichen verletze ich in seiner Ehre. Ein bisschen schalten, ein bisschen Gas geben, und der Wagen ist weit hinter mir im Verkehr verschwunden. Eine leichte Übung.
Sosehr ich die Fahrt genieße, ich kann nicht abschalten, wie es mir sonst unterwegs vergönnt ist. Ich bilde mir ein, denGeruch des Krankenhauses im Fahrtwind zu bemerken, und meine Gedanken sind wieder bei der kleinen Thea. Sie lässt mich nicht los.
Ich schere von der Straße aus, komme mit einem riskanten Bremsmanöver hinter einer Bushaltestelle zum Stehen und ziehe mir dort eine Sturmhaube aus Nylon über. Dann montiere ich mit routinierten Bewegungen das Nummernschild ab, springe auf meine Maschine und fahre weiter.
Meine Tour führt mich in das Industrieviertel Leipzigs, direkt vor eine alte Halle. Zwei Männer in schwarzen Anzügen stehen davor Wache, einer spricht ins Funkgerät, der andere hält zwei Dobermänner an Ketten fest. Den Funker, Ralf, kenne ich, der andere ist neu in der Familie.
Ich bringe die Hayabusa vor ihnen zum Stehen, schalte den Motor aus und steige ab. Die Kerle weichen keinen Schritt zur Seite.
»Muss
ich
warten?«
»Sie sind spät dran, Hel«, sagt Ralf. Er spricht mich
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