Kinder des Judas
mit meinem Künstlerinnennamen an. Vermutlich weiß Ralf nicht, was er bedeutet, und hält ihn für die Abkürzung von Helena. Ich könnte ihm sagen, dass ich unter einer der drei Wurzeln der heiligen Esche Yggdrasil wohne und die Tochter Lokis, des Dämons des Unheils, und der Riesin Angrboda bin. Aber das würde den guten Ralf nur in seiner Meinung bestätigen, dass bei mir eine Schraube locker ist. Er darf also weiter bei Helena bleiben. Man trifft heute leider nur selten auf Freunde der germanischen Mythologie, die den Namen der Todesgöttin kennen. »Müller ist schon besorgt gewesen, dass Sie nicht erscheinen.«
»Ich bin immer pünktlich gewesen, Ralf. Das wissen Sie doch.« »
Ich
weiß. Aber es geht um Müllers Geld, da wird er schon mal nervös.« Ralf grinst und sagt »Öffnen« ins Funkgerät, woraufhin sich das Tor langsam zur Seite schiebt. »Viel Glück, Hel.Und das sage ich nicht nur, weil ich mal wieder auf Sie gesetzt habe.«
Ich mustere sein Gesicht und bin erstaunt, dass ein Vierzigjähriger so alt aussehen kann. Die Sonnenbank, der Alkohol und Drogen haben tiefe Furchen in sein Gesicht gegraben. »Ist das nicht langweilig, immer zu gewinnen?«, necke ich ihn.
»Sollte ich das nicht eher Sie fragen?«, gibt er erstaunlich schlagfertig zurück. Er hat einen guten Tag.
Die Hayabusa röhrt wieder auf, ich bin zu faul zum Schieben. »Eigentlich schon, Ralf.« Ich lasse die Maschine langsam anrollen. »Wie viel haben Sie gesetzt?«
Er lacht. »Eine Menge!«
»Wissen Sie was? Heute verliere ich mal.«
Er wird bleich, und ich fahre los.
Die enorme Maschinenhalle ist nur schummrig beleuchtet. Ich kenne den Weg, fahre den Hauptgang entlang. Rechts und links fliegen uralte, verrostete Pressen und andere Eisenverarbeitungsanlagen vorbei, die zuletzt zu DDR-Zeiten in Betrieb waren. Dann biege ich in einen Seitenweg, der mich in eine scheinbare Sackgasse mit einer Bretterwand am Ende bringt.
Ich halte an, steige ab und klopfe dagegen. »Hel«, rufe ich klar und deutlich, und schon schwingt ein Teil der Wand zurück.
»Guten Abend«, grüßt mich Tanja, meine Garderobiere. Sie trägt einen langen grauen Rock, darüber eine schwarze Korsage und einen Schlips um den nackten Hals; die halblangen Haare sind mit Gel eng an den Kopf gelegt. So liebe ich sie. »Du bist spät dran.«
»Ich bin
pünktlich
«, gebe ich kalt zurück, und mir wird klar, dass ich wirklich eisig klinge. Ich schaue Tanja an. Natürlich ist es ungerecht, dass ich sie für Theas Tod leiden lasse. Aber er hat mich tiefer erschüttert, als ich angenommen habe. Normalerweise erlöst mich ein schneller Ritt auf dem Falken von derersten Trauer, doch das kleine Mädchen hat sich in meine Gedanken gegraben. Wie gerne würde ich mich hinsetzen und mich mit Tanja darüber unterhalten, aber es bleibt keine Zeit, und es wäre sehr unpassend. Die Todesgöttin steht über allem und hat unnahbar zu sein.
Mit Theas Gesicht vor Augen ziehe ich mich bis auf die dunkelroten Panties aus, tausche den passenden Büstenhalter gegen ein derbes weißes Sportmodell; danach steige ich in die kurzen Tarnhosen, die Tanja mir reicht, streife ein gleichgeflecktes T-Shirt über und schlüpfe in die Kampfstiefel. Nur noch die Handschuhe, und es kann losgehen.
Tanja sieht mich vorsichtig an. »Bleibt die Sturmhaube heute?«
Ich schlage mir gegen die Stirn.
Konzentrier dich!
Eine Fingerbewegung genügt, und sie dreht sich um, während ich die Haube gegen eine schwarze Latexmaske austausche, die vorne nur die Augen freilässt, kleine Atemschlitze für Nase und Mund und hinten eine Öffnung, durch die ich meine Haare ziehen kann. Niemand kennt hier mein wahres Antlitz, nicht einmal sie. »Jetzt die Bemalung«, sage ich und klinge nicht mehr ganz so schneidend wie zuvor.
Was folgt, ist ein Ritual, bei dem etwas vonstattengeht, das ich nicht mit Worten fassen kann. Selten kam mir in den letzten Jahren ein Mensch näher als Tanja, ohne dass ich ihn als Gegner vor mir stehen hatte und ihn kurz darauf blutend zu meinen Füßen liegen sah.
Ich setze mich auf den Drehhocker und wende mich ihr zu, mein Kreuz ist durchgedrückt. Sie geht vor mir langsam auf die Knie. Ihr Kopf neigt sich tief, um mir ihren weißen Nacken zu präsentieren, dann hebt sie ihn wieder und sieht mich mit den Augen einer Dienerin an. Es kommt mir in diesen Momenten vor, als lebten wir in einem anderen Jahrhundert und in verschiedenen Ständen. Manches Mal beschleicht mich sogar dasGefühl, sie
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