Kinder des Judas
Raum schaute. »Ich mag den Widerspruch in der Bezeichnung.«
Der Anblick, der sich Jitka bot, ließ sie schwindelig werden. Bücherregale reihten sich an Bücherregale! Wie ein Ring verliefen sie entlang der Mauer, dann standen sie in langen Reihenraumhoch nebeneinander und ließen kaum Platz für einen Erwachsenen dazwischen; hier und dort gab es schmale Durchgänge. Eine korpulente oder sehr muskulöse Person würde nicht hindurchpassen.
Jitka fehlten die Worte. Der Raum wirkte unglaublich groß, viel größer, als er wegen des Grundrisses der Mühle sein konnte. Es gab keinen vergleichbaren Ort, und ihre Neugier, die lange von Furcht und Trauer unterdrückt worden war, erwachte. Sie ging langsam vorwärts und stieß zusammen mit ihrem Vater in den Mittelpunkt vor. Dort standen zwei Schreibtische, auf denen sich Papiere und Pergamente stapelten; heruntergebrannte Kerzen kündeten von vielen Nächten des Studiums.
»So viel Wissen!« Jitka klatschte in die Hände und machte sich daran, die Einbände zu studieren. Jedenfalls versuchte sie es. Die meisten Worte ergaben für sie keinen Sinn, manche Buchstaben blieben nichts anderes als rätselhafte Zeichen. »Das ist nicht unsere Sprache!«
Er runzelte überrascht die Stirn. »Du willst mir nicht sagen, dass du schon lesen kannst.«
Sie nickte stolz. »Mutter hat es mir beigebracht. Und rechnen kann ich ebenso.« Jitka wollte tiefer zwischen die Regale vordringen, sah dann aber erst zu ihrem Vater, der ihr mit einem Wink erlaubte, sich die Bücher anzuschauen.
»Nein, es ist nicht unsere Sprache«, antwortete er mit seiner ruhigen, freundlichen Stimme. »Aber es sind sehr aufschlussreiche Bücher. Ich werde dir beibringen, sie zu verstehen. Sie erzählen viele schöne Geschichten, auf Lateinisch, Russisch, Deutsch, Italienisch und in vielen anderen Sprachen.« Er verschwand zwischen den Regalen. »Folge mir, Tochter.« Der Raum hielt sie durch seinen einmaligen Geruch und seine besondere Atmosphäre gefangen. Es begann ihr allmählich in der Mühle zu gefallen, in der es nicht nach gemahlenemGetreide und Staub, sondern nach Stein, Papier und Ledereinbänden roch.
»Ich habe noch nie so viele Bücher auf einmal gesehen.«
Karol hatte sich auf den Boden gesetzt und einen Folianten aufgeschlagen, der beinahe so lang wie sie selbst war. Das Bild zeigte eine Festung, die von den Türken belagert wurde. »Schau, welch schöne Bilder das sind. Es sind Malereien aus dem Umland von Wien.«
»Wien?« Jitka setzte sich neben ihn und achtete darauf, dass sich ihre Beine berührten. Sie fühlte sich in seiner Nähe geborgen, ein Gefühl, das sie so oft wie möglich auskosten wollte.
»Eine große Stadt, weit weg von hier. Sie gehört den Habsburgern …« Er hielt inne, weil er sah, dass sie nicht wusste, wovon er sprach. »Ich glaube, ich habe dir einiges beizubringen.« Karol streichelte ihre zarte Wange. Er freute sich offenkundig. »Und es wird mir sehr viel Spaß bereiten.«
Sie lächelte ihn scheu an, dann zeigte sie auf das Bild. »Die Männer haben Säbel und Gewehre. Aber wo sind denn deine, Vater?«
»Meine Waffen?«
»Ja, natürlich.« Jitka blickte ihn verwundert an. »Du warst doch ein Soldat.«
»Aber keiner von denen, die mit einfachen Waffen kämpfen«, erwiderte er zögernd. »Ich wollte nie ein
solcher
Soldat werden. Die Mühle gehörte meinem Vater, mit einem Großteil der Bücher, die du siehst, und ich wurde ein Forscher wie er. Ich lernte deine Mutter kennen, dann musste ich in den Krieg. Der Sultan schickte mich mit der Armee in fremde Länder, um neue Dinge zu entdecken. Das Hauen und Stechen habe ich vermieden, wo es mir möglich war. Manchmal ging es jedoch nicht anders.«
»Ein Forscher?« Ihre Neugier wuchs und wuchs, ihr Herzklopfte schneller vor Aufregung. »Ein Gelehrter? Was erforschst du denn?«
Karol betrachtete sie schweigend. »Die Tiere aus dem Wald ringsherum«, sagte er schließlich, »die Bäume und die gesamte Natur. Ich möchte ihren Geheimnissen auf die Spur kommen.«
»Warum Fledermäuse nachts nicht gegen Bäume fliegen?«, fiel sie ihm begeistert ins Wort.
Er lachte. »Ja, Tochter. Oder wie es den Vögeln gelingt, in der Luft zu bleiben.«
Jitka nickte, ihre Blicke wanderten über die vielen Bücher. »Das steht alles in den Büchern?«
»Nein. In ihnen steht, was andere Menschen entdeckt haben oder wie sie sich bestimmte Phänomene erklären. Eines Tages wird mein Name in einem solchen Buch gedruckt, und dann
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