Kinder des Judas
betrachtet mich durchaus als ein höheres Wesen. Als ihre persönliche Göttin.
Tanja nimmt die runde Dose mit der Farbe und einen feinen Pinsel, öffnet das Behältnis und taucht die feinen Härchen in das Weiß.
Sie zieht Linien unter meine Augen, an den Wangenknochen und am Kinn entlang. Damit gibt sie dem schwarzen Latex Pinselstrich für Pinselstrich Konturen. Mit dem ihr eigenen Gespür verleiht sie meinem zweiten Gesicht auch heute wieder den Ausdruck, der mir in diesem Moment entspricht, und gibt mir ein furchteinflößendes Antlitz, das der Todesgöttin würdig ist.
Wie immer betrachte ich Tanja dabei.
Ich sehe ihre Muskeln auf den Schultern und Armen spielen, sehe die Konzentration in ihren Augen und die Hingabe auf ihren Zügen, mit der sie ihre Aufgabe ausführt. Sie malt schwungvoll, aber dennoch akkurat. Jeder Strich kommt dahin, wo er soll, und ich werde mit jedem ruhiger und vergesse in diesem sehr intensiven Moment das Krankenhaus.
Tanja ist fertig, und unsere Blicke treffen sich. Sie lächelt und gibt mir ihren Nacken preis, als sei es die Erlaubnis, sie jederzeit enthaupten zu dürfen, falls ich mit ihrer Arbeit nicht zufrieden wäre. Es klopft laut. »Fertig?«, schreit jemand. Die intime Zweisamkeit zwischen Tanja und mir wird durch den Klang der Stimme zerschlagen.
Ein schneller Blick in den Spiegel zeigt, dass mich niemand erkennen wird. Ich sehe eine beinahe zierliche Frau mit einer sehr guten Figur, die einem Action-Computerspiel entstiegen sein könnte; die Maske gibt mir etwas Einschüchterndes, genau wie ich es wollte.
»Ja«, antworte ich ruppig und stoße die Tür mit dem Fuß auf, damit sie dem Mann entgegenfliegt. Ich mag es nicht, gehetzt zu werden, und binnen Sekunden ist meine Laune wieder so weit unten wie vor dem kostbaren Moment mit Tanja.
Der Mann, den ich nicht kenne, taumelt rückwärts und hält sich die Stirn, auf der sich ein dunkler Fleck abzeichnet. »Scheiße, was soll das?«, ächzt er und macht zwei Schritte zur Seite, wo eine Kühltruhe steht, in der das Eis gelagert wird. Er nimmt sich eine Handvoll und presst es gegen die Stelle.
»Ich stehe nicht auf Schreierei«, informiere ich ihn. »Ein Klopfen hätte es auch getan.« Ich gehe an ihm vorbei, Tanja stöckelt auf ihren Absätzen hinter mir her. In ihrem Outfit wirkt sie wie eine Domina-Businessfrau, die sich auf dem Weg zum Lunch verlaufen hat. »Merken Sie sich das!«
Am Ende des Gangs sehe ich gleißendes Licht. Der Anblick erinnert mich jedes Mal an die Berichte von Nahtoderfahrungen. Mich führt mein Weg heute nicht ins Paradies, sondern in die Hölle, und sie spielen dort Sixty-Nine Eyes. Meine Lieblingsband für solche Momente.
Framed in blood
. Der schwere, melodiöse Gothic-Rock dröhnt mir entgegen, der Sänger erreicht tiefe Töne, die sich an der unteren Grenze der Hertzfrequenzen befinden und die das menschliche Gehör beinahe nicht mehr wahrnimmt. Erstes Adrenalin wird in mir freigesetzt.
Nach ein paar Metern stehe ich im gleißenden Licht der Scheinwerfer, trabe durch den schmalen Korridor genau auf den erhöht stehenden Ring zu. An der Decke, in den Ecken, beinahe überall blinken die Statuslämpchen von Webcams. Die zahlende Kundschaft macht es sich jetzt vor ihren Monitoren bequem, wirft Beamer an, holt noch schnell ein paar Bier für den gemütlichen Abend mit Freunden aus dem Kühlschrank. So schön kann Blutvergießen sein.
Es ist illegal, es ist roh, es bringt verteufelt viel Geld, und keiner ahnt, dass es mitten in Deutschland stattfindet. Eine Subkultur, wie ich sie mag. Mein Ventil.
»Da sind Sie ja endlich«, sagt ein Mann neben mir, der eine Mini-Kamera in der Hand hält. Auf dem Ausweis an seinerArmy-Jacke steht, dass er autorisierter Besucher ist. Dem Nächsten, der mir das heute sagt, werde ich das Genick brechen.
Er ist einer dieser Enddreißiger, die nicht verstanden haben, dass der Kleidungsstil von Zwanzigjährigen nichts für sie ist. Die kurzen Haare hat er unter einem Basecap versteckt, eine Sonnenbrille macht seine Augen unsichtbar. »Hey, ich bin Vince, und ich soll einen Bericht über das ganze Zeug hier und natürlich über Sie machen. Die
Hel
-din – haha – des Rings. Ist im Auftrag von Star TV.«
»Wieso weiß ich davon nichts?« Ich drehe mich zu Tanja um, die eben zu mir aufschließt, weil sie auf ihren Absätzen nicht mit mir Schritt halten kann. Sie hat ihr Handy in der Hand und spricht.
»Mir hat man es eben erst gesagt«, entschuldigt sie sich und
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