Kinder des Judas
und zückt mit einer ausladenden Bewegung einen Geldbeutel. »Jedenfalls war meine Reise nicht vollkommen umsonst: Ich komme in den Genuss eines Konzerts.« Er schreitet lächelnd an mir vorbei auf den Eingang der Tonne zu.Er kümmert sich nicht um die Schlange an der Abendkasse, auch nicht um meine Kollegen, sondern legt einen Schein auf den Tisch und geht einfach hinein. Niemand kommt auf die Idee, ihn anzuhalten. Seine weißen Kleider verschmelzen mit der Wolke aus Trockeneisnebel, die aus der Tonne dringt, und er verschwindet.
Mir wird klar, dass ich noch die Waffe umklammere. Soll ich ihm nachgehen und ihm im Kunstnebel das Leben nehmen? Damit wären meine Probleme mit einem Schnitt gelöst; gleichzeitig bin ich mir sicher, dass mein Anschlag nicht gelänge. Wer weiß, was er sich noch einfallen lässt?
»Michèle, übernimmst du doch für mich?«, frage ich meine Kollegin, und sie nickt.
Hastig breche ich auf, fort von der Moritzbastei und fort von meinem Bruder, wissend, dass ich ihm wahrscheinlich so rasch und einfach nicht entkommen werde.
Er hat sich niemals mit einem ersten Nein zufriedengegeben.
V.
Kapitel
7. August 1672
Osmanisches Tributland
Z wei Jahre verstrichen, doch Scylla nahm kaum wahr, wie viel Zeit vergangen war, seit ihr Vater sie zu sich geholt hatte. Obwohl sie die Mühle nur selten verlassen durfte – und wenn, dann nur in Karols Begleitung –, vermisste sie nichts aus ihrem alten Leben. Nur manchmal stahl sie sich auf die Plattform und betrachtete die Umgebung und vor allem die Dörfer durch ihre Fernrohre. Wenn es sie überkam, sang sie auch nur alleine für sich die Lieder, die sie die Mutter gelehrt hatte, und tanzte im Takt dazu.
Scylla liebte es, ganze Tage und Nächte gemeinsam mit ihrem Vater in der Bibliothek oder in seinem Laboratorium zu verbringen. Karol scherzte oft, sie söge die Inhalte der Lexika, Folianten und wissenschaftlichen Bücher in sich auf wie ein ausgetrockneter Schwamm das Wasser.
Auch im Faustkampf und in der Handhabung des Dolches entwickelte sie sich prächtig. Karol erzählte ihr, dass eines Tages ein Meister erscheinen und sie prüfen würde. Scylla malte sich diesen Unbekannten in ebenso düsteren wie eindrucksvollen Farben aus, fieberte dem Zusammentreffen entgegen – und sorgte sich zugleich, ob sie diese Prüfung bestehen würde.
Obwohl die Gesellschaft ihres Vaters alles war, was Scylla sich wünschte, fragte sie sich manchmal, wie es wäre, in einem der Dörfer zu leben und Freunde zu haben wie alle anderen Kinder auch. Vielleicht empfand sie es deshalb als angenehme Abwechslung, wenn Menschen zur Mühle kamen, die Karol ummedizinischen Beistand baten, den er ihnen stets zusammen mit freundlichen Worten gewährte. Bezahlt wurde er von ihnen mit Hühnern, Gemüse und eingelegtem Obst, Mehl oder Getreide. »Reich werden wir so natürlich nicht«, hatte ihr Karol einmal augenzwinkernd erklärt, »aber wir müssen uns nie Gedanken über eine leere Speisekammer machen.«
An diesem Abend waren es vier Männer aus dem Dorf Ljana und eine Frau aus Pribo mit ihrer Tochter. Sie litten unter den üblichen Gebrechen, von Husten bis schmerzenden Gelenken. Einer von ihnen hatte eine entzündete Wunde am Bein; sie schwärte furchtbar und stank.
Scylla sah aufmerksam zu, wie Karol in der Küche die Wunde behandelte, und prägte sich jeden seiner Handgriffe ein. Trotzdem bemerkte sie die Gesichter der Umstehenden. Sie spürte, dass die Männer ihren Vater trotz seiner guten Taten fürchteten. Wie immer. Mit der gleichen Angst wurde auch sie betrachtet, wenn sie ihm zur Hand ging.
Scylla brachte das Wasser, mit dem Karol die eiternde Wunde ausgewaschen hatte, nach draußen, wo die Frau und ihre Tochter auf den Stufen hockten und warteten, dass sie kuriert würden. Das Mädchen war ungefähr so alt wie Scylla. Das brachte sie auf eine Idee.
»Guten Tag«, sagte Scylla höflich und schüttete den Inhalt der Schüssel mit Schwung aus. »Es wird nicht mehr lange dauern. Vater hat die Wunde aufgeschnitten und den Eiter entfernt. Nach dem Verband ist er für euch bereit.« Sie lächelte das Mädchen an. »Ich bin Scylla.«
Verunsichert sah sie zur Mutter, die ihr aufmunternd zunickte. »Ich bin Marzela«, antwortete sie. »Meine Mutter hat sich in die Hand geschnitten, und jetzt hat sie Angst, dass ihr Blut vergiftet ist.«
»Wollen wir zusammen etwas lesen, während Vater sie heilt?«, schlug Scylla mit plötzlichem Feuereifer vor.
Marzela trat von
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