Kinder des Judas
hatte ihnen viele unserer Geheimnisse verraten.«
Ich denke sofort an Carzic. Die Cognatio hat seine Verstöße gegen die Regeln immer großzügig entschuldigt, und zum Dank war vermutlich er derjenige, der gegen die eigenen Leute in den Krieg gezogen ist. Für einen kurzen Moment sehe ich vor meinem inneren Auge, wie ein Judaskind nach dem anderen seinen Feinden zum Opfer fällt. Der Anblick sollte mich mit tiefer Befriedigung erfüllen. Doch es interessiert mich nicht einmal.
»Wir alle haben tapfer gekämpft.« Er zieht die rechte Hand aus der Tasche, streckt sie aus und möchte meine Wange berühren, doch ein scharfer Blick von mir ist ihm Warnung genug. »Aber im Lauf der Jahrzehnte verloren wir unsere Territorien. Und heute … Du und ich, Sia, wir sind die letzten Kinder des Judas.«
»Dann ist es gut so«, entgegne ich mitleidlos.
»Das sehe ich ganz anders.« Er sieht mir fest ich die Augen. »Ich bin nicht hier, um dich zu bestrafen. Niemals könnte ich dir etwas zuleide tun.« Marek macht eine Pause und betrachtet die Backsteinwände des Innenhofs, dann die Gothics. »Diesejungen Leute. Was sie heutzutage so alles treiben, wird mir stets ein Rätsel bleiben. Und du gibst dich mit ihnen ab?«
»Komm zur Sache.«
»Ein Angebot, das ist es, was mich nach Leipzig führt.«
»Wie hast du mich gefunden?«
Er lächelt, und es sieht abgrundtief böse aus. Sollte Satan menschliche Gestalt annehmen, hätte er genau diese Züge. »Es hat viele Leben gekostet, bis ich alle Informationen besaß. Doch du weißt ja, wie wenig ich von menschlichem Leben halte.«
»Und doch bist du zu einem Teil Mensch geblieben.« Ich nicke ihm zu. »Du bist gealtert.
Sehr
gealtert. Deine Forschung hat dir also keinen Erfolg gebracht.«
Er gibt einen Laut von sich, der als Grollen beginnt und in einem Seufzen endet. »Ich lebe noch, das verbuche ich durchaus als Erfolg, auch wenn das Mittel furchtbar schmeckt. Viel Arsen, viel Blei. Aber dir haben die vielen Dekaden fast nichts ausgemacht. Was nimmst du?«
Ich schüttele den Kopf. »Mein Geheimnis, Bruder. Du wirst es niemals erfahren.«
»Wir werden sehen, Sia.« Er schaut zu Marko hinüber. »Ich glaube, dein Arbeitgeber möchte, dass du zu deinem Dienst zurückkehrst, deswegen werde ich dir mein Angebot unterbreiten. Die Antwort verlange ich sofort.« Er atmet ein. »Komm mit mir zurück. Gib meinem Werben nach und nimm mich zum Gemahl. Mein Leben ist nichts ohne dich, und gerade jetzt brauche ich jemanden an meiner Seite. Die Frau, die ich liebe.«
Ich hebe die Augenbrauen – und jetzt bin ich die Herrscherin.
Er weicht meinem Blick aus.
Seine kleine Rede überrascht mich wirklich. Eigentlich hätte ich vermutet, dass er mir droht und verlangt, dass ich verschwinden sollte, irgendwohin außerhalb Europas, nur ummich zu demütigen. Dass er mich neben sich sehen möchte, habe ich beim besten Willen nicht erwartet. Seine Liebe zu mir ist wahrlich sehr groß, und er überschätzt sich. Er überschätzt sich maßlos. Auch das hat sich nicht geändert. Wie kommt er darauf, dass ich vergesse, was er mir angetan hat?
Ich verschränke die Arme vor der Brust. »Du willst meine Antwort sofort, Marek?« Es gibt kein Zaudern. »Nein.«
»Schwester!« Er klingt aufrichtig entsetzt und ist viel lauter, als er beabsichtigt haben kann; die Gothics schauen zu uns herüber. »Besinne dich! Ich biete dir mehr, als du jemals in deinem Leben besessen hast.«
»Ich will nichts besitzen. Mir gefällt, wie ich mein Leben lebe, und im Gegensatz zu dir«, ich wende mich halb von ihm ab, »werde ich sehr lange leben. Dich aber umgibt schon der faulige Gestank des Todes, Bruder.
Deswegen
bist du hier: Du möchtest hinter mein Geheimnis kommen.« Ich lache auf. »Du bist einfach zu durchschauen.«
Marek beißt die Zähne zusammen. »Du missverstehst mich. Ich bin nicht so selbstsüchtig, wie du denkst.«
»Doch, das bist du. Weil du es allein nicht schaffst, kommst du zu mir. Du bist umsonst nach Leipzig gereist, Bruder.«
»Wir werden sehen«, sagt er vieldeutig und mustert dann die Besucher des Konzerts. »Was wird dort heute Abend geboten?«
»Es wird dich nicht interessieren.«
Marek lächelt schon wieder. »Es ist ein Teil deiner Welt. Vielleicht verstehe ich dein Denken besser, wenn ich mich eine Weile in ihr bewege. Mal sehen, ob ich der modernen Musik etwas abgewinnen kann.« Er greift unter seinen Mantel.
Ich erstarre und habe schon die Hand an meinen Dolchgriff.
Marek lächelt
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