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Kinder des Judas

Titel: Kinder des Judas Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Markus Heitz , Markus Heitz
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einem Fuß auf den anderen. »Ich kann nicht lesen.«
    »Ich habe auch Bücher mit Bildern. Und ich kann dir vorlesen«, beeilte sie sich zu versichern, damit Marzela blieb. »Magst du Legenden?«
    »Ich … ich kenne ein paar. Aber nicht viele.« Marzela lächelte sie neugierig an.
    »Fein! Warte hier, ich hole eins der Bücher aus der Bibliothek.« Scylla freute sich – und beging den Fehler, die nassen Ärmel nach oben zu streifen und ihr Feuermal zu entblößen.
    Marzela starrte darauf. Ihre Mutter packte sie sofort am Arm und zog sie rigide zu sich. Sie wisperte der Tochter etwas ins Ohr, und das Mädchen starrte Scylla an. Es gab nicht einmal eine Erklärung, doch die Blicke sprachen Bände.
    Scylla spürte die altbekannte Enttäuschung in sich. Der vermeintliche böse Blick und das Mal verdarben ihr alles.
    Sie kehrte in gedrückter Stimmung in die Mühle zurück und half ihrem Vater weiter bei der Arbeit. Sie würde Karol bitten, ihr den feuerroten Flecken aus der Haut zu schneiden. Dieser Makel musste sich doch beheben lassen!
     
    Karol schloss die Tür hinter der Mutter und ihrer Tochter, die er zuletzt behandelt hatte, wandte sich um und sah Scylla an, dass sie niedergeschlagen war. »Was bedrückt dich?«
    Sie winkte ab. »Nichts Wichtiges, Vater.«
    »Wenn du ein Gesicht machst, dass der traurigste Mensch neben dir wie ein Spaßvogel wirkt, muss es etwas Wichtiges sein«, widersprach er und nahm sie in den Arm. »Was ist passiert?«
    »Das Übliche. Sie haben mein Mal gesehen und …« Scylla seufzte. »Kannst du es entfernen, Vater? Die Menschen denken, dass es das Zeichen des Teufels ist.«
    »Unsinn. Es muss nicht entfernt werden«, sagte er sanft undstreichelte über ihr schwarzes Haar. »Vergiss das Gerede der Einfältigen.«
    »Aber … Es sind nicht nur die Menschen hier. Es war auch schon in Gruža so.« Scylla merkte, wie sich ihr der Hals zusammenschnürte. »Bitte, Vater, ich möchte doch nur …«
    »Ich weiß genau, was du möchtest, Tochter.« Er ließ sie los, nahm übergangslos seinen Rucksack und marschierte zum Ausgang. »Komm, ich zeige dir eine Stelle im Wald, an der man besondere Kräuter findet.« Er zwinkerte ihr zu. »Du kennst sie noch nicht – und ich weiß doch, dass es für dich nichts Schöneres gibt, als etwas Neues zu entdecken.«
    Scylla lächelte, so gut es ging. Sie wusste, dass er sie mit dem ungeplanten Ausflug aufmuntern wollte. Ihr Vater liebte sie. Mehr noch: Er traute ihr zu, so gebildet und schlau zu werden wie er. »Nichts anderes zählt«, flüsterte sie. Dann griff sie nach ihrem breiten, warmen Schal, schlang ihn sich um die Schultern und lief Karol hinterher.
    Unterwegs ließ Karol sich von Scylla alle Handgriffe, die er ihr bei den Behandlungen gezeigt hatte, noch einmal erklären. Das tat er immer.
    Plötzlich blieb er stehen. Scylla sah zu seinem Gesicht hoch und bemerkte einen angespannten, konzentrierten Ausdruck, den sie so noch nie bei ihm gesehen hatte. »Vater, was …«
    »Bleib hier, sei leise und rühr dich nicht«, raunte Karol. »Ich bin gleich wieder zurück.« Er verließ den Weg, dem sie bisher gefolgt waren, und verschwand bald zwischen den immer dichter stehenden Stämmen.
    Scylla runzelte nachdenklich die Stirn. Da war wieder dieses merkwürdige Gebaren, das ihr Vater gelegentlich an den Tag legte. Es erschreckte sie zwar nicht so sehr wie seine plötzlich aufbrandende Wut oder Kälte, doch es verunsicherte sie.
    Scylla setzte sich auf einen umgestürzten Baum und lauschte den Geräuschen im Wald. Tannenzapfen knackten und knisterten,der Wind rauschte leise in den Zweigen. Überall um sie herum stimmten Insekten ihr Nachtlied an. Scylla summte dazu eine ihrer Lieblingsmelodien, den Text ergänzte sie in Gedanken – bis sie plötzlich vom Meckern einer Ziege unterbrochen wurde. Das Tier schien nicht weit von ihr entfernt zu sein.
    Und es klang so, als wäre es in höchster Bedrängnis!
    Scylla musste nicht lange überlegen. Sie legte ihren Schal zusammengefaltet als Zeichen für ihren Vater auf den Baum, die Spitze deutete in die Richtung, in die sie laufen würde; dann rannte sie los, um der Ziege zu helfen.
    Je tiefer sie ins Unterholz vordrang, desto steiniger und unebener wurde der Moosboden. Scylla verdankte es nur ihren guten Reflexen, dass sie nicht strauchelte und fiel.
    Das Meckern wurde drängender und lauter.
    »Ich komme ja«, rief sie und sah eine Bodenspalte auftauchen, aus der die Rufe des Tieres erklangen – aber auch

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