Kinder des Judas
einem einzigen Biss und markiert sie mit drei eingeritzten X. Es wurden ein DutzendMänner und Frauen in einem Gehöft gefunden, keine halbe Tagesreise von hier. Ausgesaugt. Bis auf den letzten Tropfen!« Giure senkte die Stimme. »Kann sein, dass er dir auch hier auflauert. Dein Blut wird ihn anlocken.«
Sie bemerkte, dass er übertrieb, um ihr Angst zu machen. »Dann muss ich ihn wohl köpfen und verbrennen«, meinte sie mit einem frechen Grinsen, verzog dann aber schmerzerfüllt das Gesicht und rieb sich über die Schnittwunden am Arm.
»Warte, wir waschen sie aus.« Giure griff nach der Wasserflasche, die an seinem Gürtel hing. »Lass mich wenigstens das für dich tun, tapfere Scylla. Ich weiß sonst nicht, wie ich es gutmachen kann.«
»Das kannst du auch nicht«, donnerte es von oben herab.
Die beiden zuckten erschrocken zusammen. Keiner von ihnen hatte Karol bemerkt, der nun gewaltig und einschüchternd über ihnen aufragte und die Arme in die Seiten gestützt hatte. Ein Raubvogel, der jederzeit niederstoßen konnte. »Pack deine Ziege und verschwinde!« Der Zorn ließ seine Stimme beben.
»Entschuldigt, Herr!« Giure ließ Scyllas Finger augenblicklich los, schnappte sich das Tier am Horn und zerrte es hinter sich her, um zu einer flacheren Stelle der Erdspalte zu gelangen.
Karol rutschte auf den Absätzen zu seiner Tochter und kniete vor ihr nieder, um die Verletzungen zu untersuchen. »Ein Luchs«, befand er wütend. »Du hast dich wegen einer Ziege mit einem Luchs angelegt? Hatte ich dir nicht befohlen, an der Stelle, wo ich dich gelassen hatte, auszuharren?«
Scylla nickte. Jetzt konnte sie das Weinen nicht mehr zurückhalten. Sie wollte nicht, dass ihr Vater wütend auf sie war, und stammelnd versuchte sie, sich zu verteidigen.
»Schweig, Tochter.«
Karol nahm sie auf den Arm und trug sie durch den Wald zurück zur Mühle, wo er ihr beim Ausziehen half und die Wunden versorgte. »Du wirst von nun an in der Mühle bleiben, bisich der Meinung bin, dass du mich erneut begleiten kannst«, eröffnete er ihr. »Ich muss dir vertrauen können.«
Scylla zitterte. »Aber die Ziege …«
»… war eine Ziege, Scylla. Nur eine Ziege! Der Luchs hätte dich umbringen können. Soll der nichtsnutzige Hirte besser auf sie aufpassen und sich für sie fressen lassen, aber nicht du.«
»Es tut mir leid, Vater«, hauchte sie und schlang die Arme um ihn.
»Das sollte es auch.« Er legte eine Decke um sie und trug sie hinauf in ihr Bett. »Es darf nie wieder geschehen. Das wirst du lernen müssen.« Nachdem sie gemeinsam das Nachtgebet gesprochen hatten, gab Karol ihr einen Kuss auf die Bandagen an den Armen. »Nun schlaf und lass deine Wunden heilen«, verabschiedete er sich.
Scylla zog schniefend die Nase hoch und versuchte, das Brennen in den Schnitten zu ignorieren. Doch dann fiel ihr etwas anderes ein, was sie den Schmerz vergessen ließ. Zwei blitzende braune Augen. Ein nettes, offenes Lächeln.
Es dauerte lange, bis sie in Schlummer verfiel.
7. Dezember 2007
Deutschland, Sachsen, Leipzig, 04.30 Uhr
Als Scylla am nächsten Morgen einen kleinen Strauß frischer Blumen vor der Tür des Turms fand, wusste sie, von wem sie kamen: von Giure
.
Von nun an legte der Ziegenhirte ihr des Öfteren kleine Geschenke auf die Schwelle oder ans Fenster. Mal waren es Blumen, mal ein besonders guter Käse oder ein Stück Räucherfleisch. Da Scylla die Mühle nicht verlassen durfte, kam er manchmal tagsüber zu ihr, wenn er sicher sein konnte, dass Karol den Turm verlassen hatte, und unterhielt sich mit ihrdurch das schmale Fenster. Sie erkannte, dass Giure eine bemerkenswerte Auffassungsgabe besaß
.
Gedankenverloren sehe ich aus dem Fenster. Unter mir breitet sich das nächtliche Leipzig aus. Ich muss an die Paare denken, die nun nebeneinander in ihren Betten liegen. Wie viele von ihnen haben vorher miteinander gestritten, über den Müll, den er nicht rausgebracht hat, das neue Kleid, das sie sich unbedingt kaufen musste.
Ob sie wissen, wie viel Glück sie haben?
Aus den Treffen erwuchs eine tiefe Freundschaft zwischen den Kindern
, schreibe ich weiter.
Sie sollte viele Jahre andauern
.
August 1674
Osmanisches Tributland
»Was weißt du inzwischen über Upire?« Karol stand neben seiner Tochter in der abendlichen Küche und sah dabei zu, wie sie ein Stück Brot aß und Milch dazu trank.
Das kleine Mädchen, das er vor dem langweiligen und sinnlosen Leben als Magd gerettet hatte, war zu einer
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